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Das Netz im Dunkel

Das Netz im Dunkel

Titel: Das Netz im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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sagen, daß ermich von allen am liebsten mochte. Er murmelte mir Liebkosungen ins Ohr; sein Atem war heiß und feucht, und ehe ich noch protestieren konnte, sprang er auf und raste aus dem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und schloß ab.
    Er hatte mich noch nie allein hier zurückgelassen!
    »Nein, Papa!« schrie ich voller Panik und Entsetzen. »Komm zurück! Laß mich hier nicht allein!«
    »Du bist nicht allein«, rief er mir von der anderen Seite der Tür aus zu. »Gott ist bei dir, und ich bin auch bei dir. Ich warte hier draußen, beobachte dich durchs Schlüsselloch, bete und lausche. Nur Gutes kann von deinem Schaukeln in diesem Stuhl kommen. Du mußt daran glauben, Audrina; nur Gutes wird deinen Geist erfüllen und an die Stelle deiner verlorenen Erinnerungen treten.«
    Ich kniff die Augen zusammen und hörte die Mobiles noch lauter, viel lauter klingeln.
    »Liebling, wein doch nicht. Du brauchst keine Angst zu haben. Hab Vertrauen zu mir und tu, was ich dir sage. Dann wird deine Zukunft noch heller sein als die Sonne über uns.«
    Neben dem Stuhl war ein Nachttisch, auf dem eine Lampe stand. Daneben lag eine Bibel, ihre Bibel. Ich nahm das in schwarzes Leder gebundene Buch und hielt es dicht an mein Herz. Dann sagte ich mir, wie ich es schon so oft getan hatte, daß es nichts gab, wovor ich Angst haben mußte. Die Toten konnten niemandem etwas anhaben. Aber wenn sie das nicht konnten–weshalb hatte ich dann solche Angst?
    Ich hörte Papas sanfte Stimme vor der verschlossenen Tür. »Du hast ihre Gaben, Audrina, ich weiß es. Selbst wenn du es nicht glaubst, ich glaube es. Und ich bin es,der Bescheid weiß. Ich bin,sicher, unsere Bemühungen haben bisher nur deshalb nicht zum Erfolg geführt, weil ich mit dir im Zimmer geblieben bin. Meine Gegenwart ist es, die dir die Chance zum Erfolg nimmt. Jetzt weiß ich, daß es die Einsamkeit, die Abgeschiedenheit ist, die den Prozeß in Gang setzt. Du mußt deinen Geist von jeglicher Sorge befreien. Darfst weder Angst noch Freude, noch Verwirrung empfinden. Alles und nichts wird dir gegeben werden. Sei einfach zufrieden, daß du am Leben bist daß du bist, wer du bist und wo du bist. Verlange nichts und erhalte alles. Sitz einfach da und laß alles los, was dir Angst oder Sorgen macht. Die Zufriedenheit wird dir deine Glieder lockern, deinen Geist entspannen, und wenn der Schlaf dich zu übermannen droht, dann laß ihn kommen. Hörst du mich? Hörst du mir zu? Keine Angst. Papa ist ja hier.«
    All seine Worte waren mir vertraut. Es war immer dasselbe: Ich brauchte keine Angst zu haben, wo mich die Angst doch fast ersticken ließ. »Papa?« heulte ich ein letztes Mal, »bitte, laß mich nicht…«
    »Oh«, er seufzte aus tiefstem Herzen, »warum muß ich dich zwingen? Warum kannst du nicht einfach glauben? Lehn dich in den Schaukelstuhl zurück, lehn deinen Kopf gegen die hohe Rückenlehne, umfasse die Armlehnen und fang an zu schaukeln. Sing, wenn es dir hilft, einen klaren Kopf zu bekommen, Ängste, Sorgen und Wünsche abzulegen. Sing und sing, bis du wie ein leerer Krug bist. Leere Krüge haben Platz für vieles, aber volle Krüge können nichts mehr aufnehmen…«
    O ja, das hatte ich schon früher gehört. Ich wußte, was er tat. Er versuchte, mich in die erste Audrina zu verwandeln–oder vielleicht sollte ich auch nur das Instrument werden, durch das er mit ihr in Verbindung treten konnte. Ich wollte nicht sie sein. Und wenn ich jemals sie werdenwürde, dann würde ich ihn hassen, hassen! Ja, er beruhigte mich, tröstete mich, und wenn ich nicht die ganze Nacht hierbleiben wollte, dann mußte ich tun, was er sagte. Zuerst blickte ich mich wieder im Zimmer um, prägte mir noch einmal jede Einzelheit ein. Dann kam das Gefühl, daß ich sie sein könnte, die tote Audrina, die nur noch aus Knochen in ihrem Grab bestand. Nein, nein, ich mußte die richtigen Gedanken haben, mußte Papa geben, was er haben mußte. Ich sagte mir, daß das hier nur ein altes Schlafzimmer war, angefüllt mit altem Spielzeug. Ich sah eine riesige Spinne, die ihr Netz von einer Puppe zur anderen webte. Mammi mochte keine Hausarbeit, wollte nicht einmal dieses Zimmer putzen. Es wirkte zwar makellos sauber, aber das war nur die Oberfläche. Ich fühlte mich irgendwie wohler, als ich erkannte, daß Mammi nur Papas wegen so tat. Und Tante Elsbeth weigerte sich, dieses Zimmer zu putzen.
    Unbewußt fing ich an zu schaukeln.
    Eine alte, fast vergessene Melodie tauchte plötzlich wieder auf.

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