Das Netz im Dunkel
gewinnen? »Was ist?« schrie ich zu den Glasspielen hoch oben hinauf. »Immer höre ich euch klingeln, weiß, daß ihr versucht, mir etwas zu sagen–also sagt es mir jetzt, wo ich hier bin und bereit, euch anzuhören! Früher war ich nicht bereit dazu, das weiß ich heute! Also erzählt es mir jetzt!«
»Audrina!« erklang Papas Stimme hinter mir, »du hörstdich hysterisch an. In deiner geschwächten Verfassung ist so eine Erregung nicht gut für dich.«
»Hat Arden dich hierhergeschickt?« brüllte ich. »Soll ich denn niemals etwas erfahren? Muß ich mit einem Gedächtnis voller Löcher ins Grab gehen? Papa–erzähl mir das Geheimnis dieses Raumes!«
Er wollte es mir nicht erzählen. Seine dunklen, ausweichenden Augen wandten sich hastig ab, er fing an, davon zu sprechen, wie schwach ich sei, daß ich mich hinlegen und ausruhen müßte. Ich rannte zu ihm, hämmerte gegen seine Brust. Er hielt meine Fäuste fest in einer Hand, während er grübelnd in meine Augen starrte.
»Also schön. Vielleicht ist die Zeit gekommen. Frag mich, was du willst.«
»Erzähl es mir, Papa. Erzähl mir alles, was ich wissen muß. Ich habe das Gefühl, ich verliere den Verstand, wenn ich es nicht erfahre.«
»Okay«, sagte er, sah sich nach irgend etwas um, um sich zu setzen, aber es gab nur den Boden. Er setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Fensterrahmen und brachte es fertig, mich mit hinabzuziehen. Er hielt mich in den Armen, als er mit bedrückter Stimme anfing zu erzählen.
»Das wird nicht leicht für mich, und für dich wird es nicht angenehm sein, alles zu hören. Aber du hast recht, du mußt es wissen. Deine Tante hat von Anfang an gesagt, du solltest die Wahrheit über deine ältere Schwester wissen.«
Ich wartete mit angehaltenem Atem.
»Diese Vision, die du hattest, als du anfingst, dich in den Schaukelstuhl zu setzen, mit den Jungs, die aus dem Gebüsch sprangen–ich bin sicher, dir ist inzwischen klar, daß diese drei Jungs meine Audrina vergewaltigt haben.
Aber sie ist nicht gestorben, wie ich es dir erzählt habe.«
»Sie ist nicht tot? Papa…wo ist sie?«
»Hör mir zu und stell keine weiteren Fragen mehr, bis ich fertig bin. Ich habe dir all diese Lügen erzählt, um dich vor der Häßlichkeit zu schützen, die dein Leben hätte zerstören können. An jenem Tag, als Audrina neun Jahre alt wurde, nach der Vergewaltigung, taumelte sie heim, hielt krampfhaft die Überreste ihres Kleides zusammen, bemüht, ihre Nacktheit zu verbergen. Die Jungen hatten sie so beschämt, daß ihr kein Stolz mehr geblieben war. Schmutzig, tropfnaß, geschunden, zerkratzt und blutig, schamerfüllt–das war sie. Und im Haus warteten zwanzig Kinder, denn die Geburtstagsfeier sollte anfangen. Sie kam durch die Hintertür herein und versuchte, sich die Treppe hinaufzustehlen, ohne von irgend jemandem gesehen zu werden. Aber deine Mutter war in der Küche, sah Audrinas Zustand und raste hinter ihr die Treppe hinauf. Audrina konnte nur ein Wort stammeln, ›Jungs‹. Das genügte; deine Mutter begriff, was geschehen war. Sie nahm sie in die Arme und erzählte ihr, alles würde wieder gut werden; sagte ihr, daß solche schrecklichen Dinge manchmal geschehen, aber daß sie immer noch das wundervolle Mädchen wäre, das wir beide liebten. ›Dein Papa braucht nichts davon zu erfahren‹, sagte sie zu Audrina…und was war das für ein Fehler! Diese Worte machten Audrina deutlich klar, daß ich mich ihrer schämen würde, daß das, was die Jungs ihr angetan hatten, ihren Wert für mich mindern würde. Sie fing an zu kreischen, daß sie wünschte, die Jungs hätten sie umgebracht und tot unter dem Goldregen zurückgelassen, denn sie verdiente den Tod jetzt, wo Gott sich von ihr abgewandt und im Stich gelassen hatte, als sie ihn um Hilfe anflehte.«
»Oh, Papa«, flüsterte ich. »Ich weiß, wie sie sich gefühlthaben muß.«
»Ja, ich bin sicher, daß du das weißt. Dann machte deine Mutter ihren zweiten Fehler, einen noch schlimmeren. Sie ging mit Audrina ins Badezimmer und füllte die Wanne mit siedendheißem Wasser, zwang meine Tochter dann in dieses heiße Wasser. Mit einer harten Bürste fing sie an, den Schmutz der Jungen abzuschrubben. Audrina war schon wund und zerschunden und zerschnitten, ihr Körper hatte genug erdulden müssen, aber Lucietta wurde rasend vor Wut und benutzte diese Bürste ohne Gnade, als müßte sie die ganze Welt von all dem Schmutz, allen Jungs befreien. Ihr war gar nicht bewußt, was
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