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Das Netz im Dunkel

Das Netz im Dunkel

Titel: Das Netz im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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und ich wunderte mich nicht darüber, obwohl ich wußte, daß ich nie zur Schule gegangen war. Irgend etwas Weises sagte mir, daß ich im Körper der ersten und wundervollsten Audrina steckte, und ich würde sie ebensogut kennenlernen, wie ich mich selbst kannte. Ich war sie, und sie war ich, und ›wir‹ trugen ein hübsches Kleid aus Crêpe de Chine. Darunter trug ich meinen besten Unterrock–den mit der irischen Spitze und den gestickten Kleeblättern am Saum.
    Es war mein Geburtstag, und ich war neun Jahre alt. Das hieß, daß ich bald zehn sein würde, und zehn war nicht mehr so weit von elf, und wenn ich erst einmal zwölf war, lag der ganze Zauber, eine Frau zu sein, zum Greifen nah vor mir.
    Ich wirbelte im Kreis herum, um zu sehen, wie mein Faltenrock bis hoch zur Taille hinaufflog. Ich neigte den Kopf und drehte mich weiter, um meinen hübschen Unterrock zu sehen.
    Plötzlich hörte ich ein Geräusch auf dem Weg vor mir. Jemand kicherte. Der Himmel färbte sich plötzlich dunkel, es war wie Schwarze Magie. Blitze zuckten, Donner grollte.
    Ich konnte mich nicht rühren. Wie eine Marmorstatue stand ich erstarrt da. Mein Herz begann wild zu schlagen. Ein sechster Sinn erwachte und schrie mir zu, daß etwas Entsetzliches geschehen würde, schon bald.
    Schmerz, hämmerte mir mein sechster Sinn ein, Schande, Schrecken und Beschämung. Mammi, Papa, helft mir! Laßt nicht zu, daß sie mir weh tun! Laßt es nicht zu! Ich bin jede Woche zur Sonntagsschule gegangen, habe nicht einmal gefehlt, wenn ich einen Schnupfen hatte. Ich hatte mir meine schwarze Bibel mit meinem Namen in Gold verdient, und eine Goldmedaille hatte ich auch. Warum hatte der Schaukelstuhl mich nicht gewarnt und mir erzählt, wie ich fliehen könnte! Gott, bist du da? Siehst du das, Gott? Dann tu doch etwas! Tu irgend etwas! Hilf mir!
    Sie stürzten aus den Büschen hervor. Drei von ihnen. Lauf, lauf ganz schnell. Sie würden mich nie kriegen, wenn ich schnell genug lief. Meine Beine bewegten sich, rannten…aber nicht schnell genug.
    Schrei, schrei laut und immer lauter!
    Ich kämpfte, stieß und kratzte, mein Kopf krachte gegen die Zähne des Jungen, der mir die Arme auf dem Rücken festhielt.
    Gott hörte meine Hilferufe nicht. Niemand hörte sie. Schrei, schrei, schrei noch einmal–bis ich nicht mehr schreien konnte. Ich fühlte nur noch Scham, Erniedrigung, rücksichtslose Hände, die mir Gewalt antaten.
    Dann der andere Junge, der sich hinter den Büschen erhob, wie gelähmt dort stand und mich anstarrte. Sein Haar klebte an der Stirn, denn es regnete jetzt heftig. Sehen, wie er fortlief!
    Meine Schreie ließen Papa ins Zimmer stürzen. »Liebling, Liebling«, rief er und fiel auf die Knie, damit ermich in die Arme nehmen konnte. Er drückte mich an seine Brust und streichelte meinen Rücken, mein Haar. »Ist ja schon gut, ich bin ja hier. Ich werde immer hiersein.«
    »Du hättest das nicht tun sollen«, schluchzte ich, noch immer zitternd von dem Schock.
    »Was hast du diesmal geträumt, mein Liebes?«
    »Schlimme Sachen, schreckliche Sachen.«
    »Erzähl mir alles. Laß deinen Papa den Schmerz und die Schande von dir nehmen. Weißt du jetzt, warum ich dich immer davor warne, in den Wald zu gehen? Das war deine Schwester, Audrina. Deine tote Schwester. So etwas darf dir nicht geschehen. Du läßt diese Szene in deinen Kopf dringen, wo ich doch nur möchte, daß du dich auf die andere Seite des Waldes versetzt. Hast du gesehen, wie glücklich sie sein konnte? Wie froh und lebhaft? Hast du gefühlt, wie wundervoll alles für sie war, wenn sie sich dem Wald fernhielt? Das wünsche ich mir für dich. Ach, meine süße Audrina«, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in meinem Haar, »es wird nicht immer so sein. Eines Tages, wenn du dich hinsetzt und schaukelst, dann wirst du auf die andere Seite des Waldes gelangen, wirst die Knaben vergessen und feststellen, wie schön es ist, am Leben zu sein. Und wenn du das erst tust, dann werden all die Erinnerungen, die du vergessen hast, die guten Dinge zurückkommen und dich wieder zu einem Ganzen machen.«
    Da erzählte er mir, mit besten Absichten, daß ich jetzt kein Ganzes war–und wenn das stimmte, was war ich dann? Verrückt?
    »Morgen abend werden wir es noch einmal versuchen. Ich glaube, es war nicht so schlimm wie bisher. Diesmal hast du dich frei gemacht und bist zu mir zurückgekehrt.«
    Ich wußte, daß ich mich vor diesem Zimmer und diesem Stuhl hüten mußte. Irgendwie mußte ich

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