Das Netz im Dunkel
pünktlich ihre Miete bezahlt. Und denk nur, Lucky, jetzt hast du eine lebende Frau, die du zum Tee einladen kannst, und wir können uns von Mercy Marie verabschieden. Ihr beiden genießt es zweifellos, ihren grausamen, scharfen Geist zu imitieren, aber ich möchte dennoch, daß ihr mit diesem Spiel aufhört. Es ist nicht gut für Audrina, wenn sie Zeuge einer so bizarren Handlung wird. Außerdem kann Mercy Marie sehr gut die dicke Frau eines afrikanischen Häuptlings sein und alles andere als tot. Wir wissen nichts Genaues.«
Sowohl meine Mutter als auch meine Tante fingen an zu spotten–sie wollten nicht glauben, daß irgendein Mann Tante Mercy Marie haben wollte.
»Wir beenden die Teestunden«, sagte Mammi leise, als hätte sie jetzt, da sie ein Baby erwartete, jeglicher Gesellschaft ein Ende gemacht.
»Papa«, fing ich vorsichtig an, als ich mich wieder an den Tisch setzte, »wann habe ich Tante Mercy Marie das letzte Mal lebend gesehen?«
Papa beugte sich über den Tisch und küßte mich auf dieWange. Dann rückte er mit seinem Stuhl näher zu mir, so daß er den Arm um meine Schultern legen konnte. Meine Tante stand auf, um sich in den Schaukelstuhl zu setzen und zu stricken. Aber schon nach kurzer Zeit war sie so wütend mit ihrer Strickerei, daß sie sie hinwarf, einen Staubwedel ergriff und im angrenzenden Zimmer die Tischplatten abstaubte. Dabei hielt sie sich immer in der Nähe der Tür auf, damit sie zuhören konnte.
»Es ist schon viele Jahre her, daß du Mercy Marie gesehen hast. Natürlich kannst du dich nicht mehr an sie erinnern. Liebes, hör auf, dir deinen Kopf über die Vergangenheit zu zermartern. Heute zählt, nicht das Gestern. Erinnerungen sind nur wichtig für die Alten, die den besten Teil ihres Lebens bereits hinter sich haben und sich auf nichts mehr freuen können. Aber du bist noch ein Kind, und all die schönen Dinge liegen noch vor dir, nicht hinter dir. Du kannst dich nicht an jede Einzelheit deiner Kindheit erinnern, aber ich auch nicht. ›Das Beste kommt noch‹, hat irgendein Dichter geschrieben, und ich glaube daran. Papa wird dafür sorgen, daß du eine schöne Zukunft haben wirst. Deine Gabe wird wachsen und wachsen. Du weißt warum, nicht wahr?«
Der Schaukelstuhl. Der Stuhl machte aus mir die erste unvergessene Audrina und löschte all meine Erinnerungen aus. Oh, ich haßte sie. Warum konnte sie nicht einfach tot in ihrem Grab liegenbleiben? Ich wollte ihr Leben nicht, ich wollte mein eigenes. Ich befreite mich aus Papas Umarmung. »Ich gehe auf den Hof zum Spielen, Papa.«
»Aber lauf nicht in den Wald«, warnte er mich. Tante Elsbeth schien von unsichtbaren Fäden in die Küche zurückgezogen zu werden. Sie schwenkte den Staubwedel so drohend, als wollte sie Papa damit verprügeln.
Mammi wandte ihre violetten Augen ihrer Schwester zu und sagte sanft: »Wirklich, Elsbeth, du wirbelst mehrStaub auf, als du fortwischst.«
Kaum war ich draußen, als Papas Worte mir im Kopf herumgingen. Er liebte mich nicht wirklich. Er liebte sie, die erste und unvergessene. Die perfekte Audrina. Für den Rest meines Lebens würde ich versuchen müssen, das Niveau zu erreichen, das sie vorgegeben hatte. Aber wie konnte ich alles sein, was sie gewesen war, wenn ich doch ich selbst war?
Ich hatte eigentlich durch den Wald schleichen und unsere neuen Nachbarn besuchen wollen, aber meine Tante rief mich ins Haus zurück und hielt mich den ganzen Morgen damit in Trab, das Haus zu putzen. Mammi fühlte sich nicht wohl. Irgend etwas, das sie ›morgendliche Übelkeit‹ nannte, ließ sie immer wieder ins Bad rennen. Meine Tante sah erfreut aus, wenn sie es bemerkte, und murmelte die ganze Zeit über etwas von Dummköpfen vor sich hin, die den Zorn Gottes riskierten.
Gegen drei Uhr kam Vera heim. Sie sah verschwitzt, blaß und erschöpft aus. Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu und stapfte die Treppe hinauf. Ich beschloß, erst nachzusehen, was sie tat, ehe ich mich durch den Wald schlich, um die neuen Nachbarn zu besuchen. Ich wollte nicht, daß Vera mir nachkam. Sie würde es bestimmt Papa erzählen, und dann wurde ich bestraft.
Vera war nicht in ihrem Zimmer. Auch nicht in meinem, wo sie die Schubladen durchwühlt hatte in der Hoffnung, etwas zu finden, was sich zu stehlen lohnte. Ich suchte weiter, hoffte, sie zu überraschen. Statt dessen überraschte sie mich.
In dem Zimmer der ersten Audrina, das Papa normalerweise verschlossen hielt, außer an den Tagen, an denen Mammi dort
Weitere Kostenlose Bücher