Das Netz im Dunkel
sehnlichst wünschst…«
Die Schule! Sie würden mich zur Schule schicken! Endlich!
»Liebling, hast du uns nicht oft gesagt, du hättest gern einen Bruder oder eine Schwester? Nun, dein Wunsch wird bald in Erfüllung gehen.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Die Vision glücklicher Tage in der Schule schwand dahin. Niemals wurden meine Träume wahr, niemals. Doch als ich dann zitternd in ihrer Umarmung stand und Papa mein Haar streichelte, war ich plötzlich unerwartet glücklich. Ein Baby. Ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwesterwürden mich sicher von ihrer allzu großen Aufmerksamkeit befreien. Vielleicht würden sie sich dann wünschen, daß ich nicht immer im Haus sei, würden mich zur Schule schicken, um zu lernen. Da war Hoffnung. Es mußte Hoffnung geben.
Mammi warf Papa einen langen, traurigen und bedeutungsvollen Blick zu. »Damián, diesmal werden wir doch bestimmt einen Sohn bekommen, nicht wahr?«
Warum sagte sie das? Mochte sie keine Mädchen? »Ganz ruhig, Lucky. Die Chancen stehen gut. Diesmal werden wir einen Jungen bekommen.«
Papa lächelte mir liebevoll zu, als könnte er in meinen aufgeschreckten Augen meine Gedanken lesen. »Wir haben schon eine wundervolle und besondere Tochter. Also schuldet Gott uns einen Sohn.«
Ja, Gott schuldete ihm einen Sohn, nachdem er ihm die erste und unvergessene Audrina genommen und nur durch mich ersetzt hatte.
An jenem Abend kniete ich neben meinem Bett, faltete die Hände unter dem Kinn und betete mit geschlossenen Augen: »Lieber Gott, selbst wenn meine Eltern sich einen Jungen wünschen, hätte ich wirklich nichts dagegen, wenn du ihnen ein Mädchen schickst. Laß sie bloß nicht veilchenfarbene Augen und Chamäleonhaar haben wie mich. Laß sie nichts Besonderes sein. Man ist so schrecklich einsam, wenn man etwas Besonderes ist. Ich wünschte, du hättest mich auch ganz gewöhnlich geschaffen und mir ein besseres Gedächtnis gegeben. Wenn die erste und unvergessene Audrina da oben bei dir ist, dann schaffe das Kind nach ihrem Vorbild oder nimm Vera. Mach dieses Baby wundervoll, aber nicht so besonders, daß es nicht einmal zur Schule gehen kann.«
Ich wollte schon schließen und Amen sagen, aber dannfügte ich noch hinzu: »Und, lieber Gott, beeil dich und laß diese Nachbarn einziehen. Ich brauche einen Freund, selbst wenn es der Junge ist, der Vera mag.«
Ich führte jetzt Tagebuch, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. An diesem Donnerstag erfuhren meine Tante und meine Cousine die Neuigkeit, die ich schon einen ganzen Tag lang wußte. Es gab mir das Gefühl, meinen Eltern etwas Besonderes zu bedeuten, weil sie mir etwas so Wichtiges zuerst mitgeteilt hatten. »Ja, Ellie, Lucky ist wieder schwanger. Ist das nicht wundervoll? Natürlich werden wir diesmal einen Sohn verlangen, da wir ja schon die Tochter haben, um die wir gebeten hatten.«
Meine Tante warf meiner Mutter einen überraschten Blick zu. »Oh, mein Gott«, meinte sie bloß, »manche Menschen lernen es aber auch nie.«
Vera wurde noch bleicher, als sie es ohnehin schon war. Panik trat in ihre dunklen Augen. Dann bemerkte sie, daß ich sie anstarrte. Hastig richtete sie sich auf. »Ich gehe eine Freundin besuchen. Ich komme erst heim, wenn es wieder dunkel ist.«
Sie stand da, wartete darauf, daß jemand Einwände erhob, wie es sicherlich der Fall gewesen wäre, hätte ich dieselben Worte geäußert. Aber niemand sagte etwas. Es war fast, als wäre es ihnen allen egal, ob Vera zurückkam oder nicht. Erbost humpelte Vera aus der Küche. Ich sprang auf und folgte ihr auf die Veranda. »Wen besuchst du denn?«
»Das geht dich nichts an!«
»Wir haben keine Nachbarn in der Nähe, und bis zu den McKennas ist es sehr weit.«
»Kümmere dich nicht drum«, sagte sie mit erstickter Stimme. Tränen standen in ihren Augen. »Geh du nurwieder hinein und hör dir alles über das neue Baby an, und ich besuche meine Freundin, die dich nie ausstehen konnte.«
Ich sah ihr nach, wie sie die Sandstraße entlanghumpelte, und fragte mich, wen sie besuchen wollte. Vielleicht ging sie nirgendwohin, sondern suchte nur einen Flecken, wo sie für sich allein sein und weinen konnte.
Als ich wieder in die Küche kam, redete Papa noch immer. »Sie haben einen Teil ihrer Sachen letzte Woche in die Hütte gebracht, wohnen aber erst seit gestern dort. Ich habe sie noch nicht persönlich kennengelernt, aber der Makler sagt, sie hätten schon seit ein paar Jahren im Dorf gelebt und immer
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