Das Netz im Dunkel
fröhlich auf. »Es istvielleicht ganz genau die richtige Art, um einen Jungen wie meinen Sohn zu interessieren, der es liebt, Geheimnisse zu lüften.«
Ich reckte den Hals und sah eine schöne, dunkelhaarige Frau an einem offenen Fenster des Häuschens sitzen. Ich konnte sie bis zur Taille sehen. Mit dem langen, blauschwarzen Lockenhaar, das ihr über die Schultern fiel, erschien sie mir wie ein Filmstar. Ihre Augen waren dunkel, ihre Haut hell und makellos wie Porzellan.
»Audrina, du bist hier immer willkommen, wenn du Lust hast, uns zu besuchen«, rief sie freundlich. »Mein Sohn ist ein feiner, anständiger Junge, der dir niemals etwas antun würde.«
Ich war atemlos vor Glück. Nie zuvor hatte ich einen Freund gehabt. Ich war ungehorsam gewesen, wie die erste Audrina, war in den Wald gelaufen…und hatte Freunde gefunden! Vielleicht war ich doch nicht so verdammt wie sie. Der Wald würde mich nicht zerstören, wie er sie zerstört hatte…
Ich wollte etwas sagen, wollte vortreten und mich zeigen und den Mut aufbringen, Fremden auf ihrem eigenen Grund und Boden gegenüberzutreten. Doch gerade, als ich bereit war, mich zu zeigen, hörte ich aus dem Wald hinter mir meinen Namen rufen, wieder und wieder. Die Stimme war noch fern und schwach, aber mit jedem Ruf klang sie näher.
Es war Papa! Woher wußte er, wo er mich finden würde? Was machte er schon so früh daheim? Warum war er nicht im Büro? Hatte Vera ihn angerufen und ihm erzählt, daß ich weder im Haus noch auf dem Hof war? Er würde mich bestrafen, ich wußte, daß er das tun würde. Selbst wenn das hier nicht der schlimmste und verbotene Teil des Waldes war–er wollte einfach nicht, daß ichmich den Blicken derer entzog, die von morgens bis abends über mich wachten.
»Auf Wiedersehen, Arden«, rief ich hastig und winkte ihm zu. Dann winkte ich auch seiner Mutter am Fenster zu. »Auf Wiedersehen, Mrs. Lowe. Ich freue mich, Sie beide kennengelernt zu haben. Und danke, daß Sie mich zur Freundin haben wollen. Ich brauche Freunde, deshalb werde ich bald wiederkommen, das verspreche ich.«
Arden lächelte übers ganze Gesicht. »Bis bald, hoffe ich.«
Ich rannte zu Papas Stimme zurück. Hoffentlich erriet er nicht, wo ich gewesen war. Ich wäre fast mit ihm zusammengestoßen, der den kaum sichtbaren Weg entlangmarschierte. »Wo bist du gewesen?« fragte er, packte meinen Arm und drehte mich zu sich herum. »Wovor läufst du davon?«
Ich starrte in sein Gesicht empor. Wie immer sah er sehr gut aus, sauber und gepflegt. Er trug einen dreiteiligen Anzug, maßgeschneidert. Noch als er meinen Arm losließ, wischte er sich schon trockene Blätter vom Ärmel. Dann untersuchte er seine Hose, um zu sehen, ob die Dornen sie zerrissen hatten. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er mich vielleicht noch schlechter behandelt. Doch zum Glück hatte sein neuer Anzug keinen Schaden erlitten. So konnte er mich gerade soviel anlächeln, daß ich meine Angst verlor. »Ich habe dich seit zehn Minuten gerufen. Audrina, habe ich dir nicht immer wieder verboten, den Wald zu betreten?«
»Aber, Papa, heute ist solch ein wunderschöner Tag, und ich wollte sehen, wohin die Kaninchen immer laufen, um sich zu verstecken. Ich wollte wilde Erdbeeren pflücken und Blaubeeren und Vergißmeinnicht. Und dann wollte ich noch Maiglöckchen, um sie in mein Zimmer zu stellen,damit es gut duftet.«
»Du bist doch diesen Weg nicht bis ans Ende gelaufen, oder?«
Irgend etwas in seinen Augen warnte mich davor, ihm zu erzählen, daß ich Arden Lowe und seine Mutter getroffen hatte.
»Nein, Papa. Mir fiel ein, was ich versprochen habe, und da bin ich den Kaninchen nicht länger nachgelaufen. Papa, Kaninchen sind ja so schnell.«
»Gut«, sagte er, packte erneut meine Hand und wirbelte mich herum. Dann zerrte er mich hinter sich her. »Ich hoffe, du belügst mich niemals, Audrina. Lügen haben kurze Beine.«
Ich schluckte nervös. »Warum bist du so früh daheim, Papa?«
Mit gerunzelter Stirn wandte er sich zu mir um. »Ich hatte heute morgen beim Frühstück schon so ein Gefühl deinetwegen. Du wirktest so verschlossen. Ich saß in meinem Büro und fragte mich, ob du es dir nicht vielleicht in den Kopf gesetzt hättest, die neuen Mieter zu besuchen, die in das Häuschen eingezogen sind. Und jetzt hör mir mal zu, mein Mädchen: Du wirst nie dort hingehen. Hast du verstanden? Wir brauchen das Mietgeld, aber sie sind uns gesellschaftlich nicht ebenbürtig. Also laß sie in
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