Das Netz im Dunkel
Schrank zog sie eine riesige Flasche mit Bleichmittel. Davon goß sie ein wenig auf einen Schwamm und betupfte damit Papas neues, rosa Hemd. Das Eisen hatte einen dicken Brandfleck hinterlassen, gerade da, wo sein Jackett das Hemd nicht bedeckte.
Ich trat neben sie, um zu sehen, was sie tat. Es schien zu klappen mit dem Bleichmittel.
Papa stapfte in die Küche, frisch rasiert und gekämmt, bereit fortzugehen. Er blieb neben dem Bügelbrett stehen und starrte Vera an. Jetzt, wo ihre Figur fraulich wurde, sah sie ausgesprochen hübsch aus. Sein Blick wanderte von ihr zu mir und wieder zurück. Verglich er mich mitihr? Was sah er, daß er so unentschieden aussah?
»Was, zum Teufel, machst du mit meinem Hemd, Audrina?« fragte er, als er zum ersten Mal das Bügelbrett ansah.
»Sie hat es für dich gebügelt, Papa«, meldete sich Vera und trat näher zu ihm, wie um zu demonstrieren, daß sie auf seiner Seite wäre. »Und das dumme Ding war so damit beschäftigt, auf mir herumzuhacken, daß sie das Bügeleisen auf deinem neuen Hemd vergessen hat–«
»O mein Gott!« schrie er, packte das Hemd und untersuchte es genauestens. Dann stöhnte er auf, als er etwas sah, das ich noch überhaupt nicht bemerkt hatte. Die Sonne schimmerte durch die Löcher in dem dünnen Hemd. »Da sieh nur, was du angestellt hast!« brüllte er mich an. »Dieses Hemd ist aus reiner Seide! Du hast mich einhundert Dollar gekostet.«
Dann fiel sein Blick auf die Riesenflasche mit Bleichmittel. Wieder stöhnte er. »Erst verbrennst du mein Hemd, und dann gießt du noch Bleichmittel darauf? Wo war denn dein Verstand, Mädchen?«
»Reg dich nicht auf«, sagte Vera, stürzte vor und riß ihm das Hemd aus der Hand. »Ich werde das Hemd für dich reparieren, du wirst es nicht mehr von einem neuen unterscheiden können. Schließlich wissen wir ja, daß Audrina überhaupt nichts richtig machen kann.«
Er funkelte mich an, ehe er sich mit zweifelndem Gesicht ihr zuwandte. »Wie willst du ein Hemd ausbessern, in das Bleichmittel Löcher gefressen hat? Es ist hin, und ich wollte es zu einer wichtigen Versammlung tragen.«
Er riß seine weinrote Krawatte vom Hals, starrte auf seine hellgraue Hose und schickte sich an, die Küche zu verlassen.
»Papa«, fing ich an, »ich habe dein Hemd nicht versengt.«
»Lüg mich nicht an«, erklärte er voll Verachtung. »Ich habe dich am Bügelbrett gesehen, und die Flasche mit dem Bleichmittel war keinen Schritt von dir entfernt. Außerdem glaube ich, daß es Vera vollkommen egal ist, ob mein Hemd kraus ist oder nicht. Aber ich habe natürlich angenommen, daß du weißt, wie wichtig es mir ist, immer perfekt gekleidet zu sein.«
»Ich weiß doch überhaupt nicht, wie man Hemden bügelt, Papa. Vera sagt doch auch die ganze Zeit, daß ich so dumm bin, daß ich überhaupt nichts weiß.«
»Papa, sie lügt. Und was noch schlimmer ist, ich hab’ihr gesagt, sie soll ein feuchtes Tuch nehmen, aber sie wollte nicht auf mich hören. Aber du weißt ja selbst, wie Audrina ist.«
Er schien gerade richtig schimpfen zu wollen, als er mein verzweifeltes Gesicht bemerkte. »Schon gut, Vera. Das reicht jetzt. Wenn du dieses Hemd retten kannst, gebe ich dir zehn Dollar.«
Er lächelte schief.
Getreu ihrem Wort zeigte Vera Papa sein rosa Hemd, als er an diesem Abend heimkam. Es sah brandneu aus. Er nahm es ihr aus den Händen, drehte und wendete es, suchte nach Flicken und Stichen, konnte aber nichts entdecken. »Ich traue meinen Augen nicht«, sagte er. Dann lachte er und zog seine Brieftasche hervor. Er reichte Vera zehn Dollar. »Süße, vielleicht habe ich dich doch falsch eingeschätzt.«
»Ich habe es zu einem Kunststopfer gebracht, Papa«, erklärte sie bescheiden und senkte den Kopf. »Es hat mich fünfzehn Dollar gekostet, das heißt also, fünf Dollar von meinem Ersparten.«
Er hörte aufmerksam zu. Wenn es überhaupt Menschen gab, die mein Vater bewunderte, dann waren es solche, die sparen konnten. »Woher hast du Geld, was du sparen kannst, Vera?«
»Ich erledige Besorgungen für alte Leute. Helfe ihnen beim Einkaufen«, antwortete sie leise und schüchtern. »Samstags gehe ich immer zu Fuß den weiten Weg ins Dorf. Manchmal passe ich auch irgendwo auf Kinder auf.«
Mir blieb der Mund offenstehen. Es stimmte schon, daß Vera samstags hin und wieder verschwand, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie fünfzehn Meilen ins Dorf und weitere fünfzehn zurücklief. Papa war höchst beeindruckt, zog eine
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