Das Netz im Dunkel
nein–ich bin nicht so wie einpaar andere hier im Haus, die erst nein sagen und gleich darauf ihre Meinung ändern.«
»Laß mich tun, was ich will, oder ich werde mich mitten auf der Main Street aufbauen und all unsere Familiengeheimnisse hinausposaunen!« kreischte Vera. »Ich bleibe so lange dort stehen, bis jeder weiß, wer mein Vater ist und was du getan hast–und dann wird der Name Whitefern noch tiefer in den Dreck gezogen.«
»Eine Silbe über unsere Familiengeheimnisse, und du bekommst keinen Pfennig von mir oder irgend jemandem sonst. Wenn du dich anständig benimmst, dann haben wir eine Chance, früher oder später noch unseren Gewinn zu machen. Aber du ärgerst Damián und Lucietta. Du bist wie ein Dorn in ihren Augen, aber es kann sich für uns beide bezahlt machen, wenn du wenigstens versuchst, dich zu benehmen. Ich habe den Tag verflucht, an dem ich dich empfangen habe. Wie oft habe ich mir gewünscht, ich hätte deine Geburt verhindert. Aber als ich dann gesehen habe, wie du Damians Hemd hast ausbessern lassen, als ich sah, wie beeindruckt er war, da habe ich neue Hoffnung bekommen.«
Ihre Stimme nahm einen flehenden Ton an. »Audrina muß nicht der Liebling der Familie sein, Vera. Vergiß nicht, alles, was ihr zugestoßen ist, hat dir einen gewissen Vorteil verschafft. Nutz das aus. Du weißt, wie Damián ist und was er braucht. Bewundere ihn, respektiere ihn. Schmeichle ihm, und dann wirst du sein Liebling sein.«
Schweigen breitete sich aus, dann konnte ich sie etwas flüstern hören, was ich nicht verstand. Wieder spürte ich den schon vertrauten Schmerz in meiner Brust. Sie planten eine Verschwörung gegen mich–und sie wußten, was mir zugestoßen war, aber ich nicht!
Ich hatte fast geglaubt, daß meine Tante mich mochte.
Jetzt hörte ich, daß auch sie meine Feindin war. Ich kehrte an den Tisch zurück, um noch entschlossener zu arbeiten. Ich würde die Aktie herausfinden, die steigen würde, und so würde ich Papa reich machen, sehr, sehr reich.
Ich band meinen kleinen Ring mit meinem Geburtsstein an den Bindfaden. Ich dachte mir, ich könnte es machen wie Mrs. Allismore und auf diese Weise vorhersagen, welche Aktien den größten Gewinn erzielen würde. Papa behauptete immer, es sei keine Wissenschaft, mit Aktien zu handeln, sondern eine Kunst. Und was ich jetzt tat, erschien mir sehr künstlerisch. Ich hatte eine Nadel mit einem Stück Faden an dem Ring befestigt. Das sollte mein Zeiger sein. Zweimal berührte sie dieselbe Aktie. Ich versuchte, sie noch ein drittes Mal dazu zu zwingen. Drei–das war eine magische Zahl. Aber der Zeiger weigerte sich, selbst als ich die Augen öffnete und versuchte, den Ring zu beherrschen. Er schien tatsächlich eigene Kräfte zu haben, war unentschlossen, zögerte, genauso wie sich Mammis Ring über ihrem Bauch gezeigt hatte.
In diesem Augenblick hörte ich jemanden laut aufheulen. »Wo sind meine Diamanten-Ohrringe?« rief Tante Elsbeth. »Sie sind das einzig Wertvolle, das mir mein Vater hinterlassen hat! Und wo ist der Verlobungsring meiner Mutter? Fort! Vera, hast du meinen Schmuck gestohlen?«
»Nein. Vielleicht hast du ihn verlegt wie alles andere!«
»Es ist Jahre her, daß ich diesen Ring getragen habe. Du weißt, daß ich meinen besten Schmuck immer in diesem Kästchen aufgehoben habe. Vera, lüg nicht. Du bist die einzige, die jemals mein Schlafzimmer betritt. Also, wo sind die Sachen?«
»Warum fragst du nicht Audrina?«
»Sie? Sei doch nicht albern. Das Mädchen würdeniemalsirgendetwasstehlen;dazuistsievielzu anständig. Im Gegensatz zu dir.«
Sie brach ab, ich faltete meine Zeitungen zusammen und verstaute die Liste der Aktien sorgfältig. »Jetzt weiß ich, was du getan hast, um Damians rosa Seidenhemd wiederherzustellen«, schimpfte meine Tante. »Du hast meine Ohrringe und meinen Ring gestohlen, hast sie versetzt und ihm ein neues Hemd gekauft. Verdammt sollst du sein, Vera! Nein, du gehst nicht ins Kino. Weder heute noch an irgendeinem anderen Samstag! Bis zu dem Tag, an dem du genug Geld verdient hast, um meinen Schmuck zurückzubringen, bleibst du daheim!«
Ich trat an den Fuß der Treppe, um sie besser hören zu können. Ich hörte einen dumpfen Knall, als wenn jemand gefallen wäre. Dann raste Vera die Treppe hinunter, gefolgt von meiner hinkenden Tante. »Wenn ich dich erwische, sperre ich dich für den Rest des Sommers in deinem Zimmer ein!«
Vera flog die Treppe herab. Sie hatte ihr bestes Kleid und ihre neuen,
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