Das Netz im Dunkel
weitere Zehn-Dollar-Note hervor und reichte sie ihr. »Jetzt hat mich das Hemd einhundertundzwanzig Dollar gekostet, aber das ist immer noch besser, als es fortzuwerfen.«
Er sah mich nicht einmal an, als er sich impulsiv vorbeugte und Vera auf die Wange küßte. »Du überraschst mich, Mädchen. Ich bin nicht immer nett zu dir gewesen. Ich dachte, dir wäre es egal, wenn mein Hemd kaputt ist. Ich habe nicht einmal gedacht, daß du mich mögen würdest.«
»Ach, Papa«, sagte sie mit leuchtenden Augen, »ich liebe dich vom Scheitel bis zur Sohle.«
Ich haßte sie, haßte sie wirklich, weil sie ihn Papa nannte, wo er doch mein Vater war und nicht ihrer.
Aus irgendeinem Grund wich Papa vor Vera zurück, blickte auf seine Schuhe hinab, als wollte er die hornigen Zehennägel sehen, die ihm so peinlich waren. Er räusperte sich, wirkte beunruhigt. »Nun, das ist ja ein übertriebenes Kompliment, aber wenn du es ehrlich meinst, dann bin ich erfreut und gerührt.«
Verblüfft sah ich ihm nach, als er das Zimmer verließ,ohne auch nur einen einzigen Blick in meine Richtung getan zu haben. An diesem Abend kam er nicht in mein Zimmer, um mich ins Bett zu bringen, mir einen Kuß zu geben oder mit mir zu beten, und wenn ich von Jungs im Wald träumen würde, dann würde er in dieser Nacht bestimmt nicht herbeieilen, um mich zu retten, davon war ich überzeugt.
Am Morgen war es Vera, die Papa den Kaffee einschenkte. Sie löste Mammi ab, die niedergeschlagen wirkte und schrecklich blaß war. Dann sprang Vera auf, um drei Scheiben Toast zu rösten, und sie blieb dabei stehen, damit sie nicht zu dunkel wurden. Papa liebte es, wenn sie außen knusprig und innen weich waren. Vera briet seinen Speck perfekt, und ich hörte nicht eine einzige Klage von ihm. Nach dem Essen bedankte Papa sich bei ihr, daß sie ihn bedient hatte. Dann stand er auf, um zur Arbeit zu fahren. Vera humpelte hinter ihm her und ergriff seine Hand. »Papa, ich weiß zwar, daß du nicht mein richtiger Vater bist, aber könnten wir nicht so tun, als wenn du es wärest? Könnten wir das nicht tun, Papa?«
Er schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, schien nicht zu wissen, was er sagen sollte, wirkte aber gleichzeitig gerührt. Papa gehörte zu mir und Mammi, nicht zu Vera. Ich warf meiner Tante einen Blick zu. Sie saß mit grimmigem Gesicht und zusammengekniffenen Lippen am Tisch. Ich wünschte, daß sie und Vera fortgehen und nie wieder in dieses Haus zurückkommen würden.
Bald darauf fuhr Papa fort. Ich sah ihm nach, sah zu, wie der Wagen auf die Sandstraße einbog, die ihn zur Schnellstraße und in die Stadt bringen würde. Dort würde er mit Geschäftsmännern zu Mittag essen, und das Ganze nannte er dann Arbeit. Zu meiner Überraschung blieb er kurz an unserem Briefkasten stehen. Ich fragte mich,warum er die Post nicht schon am Vorabend mitgebracht hatte. Hatte er es so eilig gehabt, Mammi zu sehen, zu hören, wie sie den Tag überstanden hatte und wie es ihr ging, daß er vergessen hatte, nach der Post zu sehen?
Als ich dann zum Briefkasten kam, stellte ich fest, daß die Post noch da war. Ja, Zeitschriften und Zeitungen quollen sogar aus der Tür, die sich nicht mehr schließen ließ.
Es war schwer für mich, alles zu schleppen, was an Papa gerichtet war. Aber so würde ich Papa zurückgewinnen. Ich wußte, was er von mir wollte. Ich wußte, was Papa am wichtigsten war–Geld. Ich mußte mein ›Talent‹ einsetzen, um Papa zu Geld zu verhelfen. Dann wäre ich für alle Zeiten sein Liebling. Ich versuchte, die erste Seite vom Wall Street Journal zu lesen, noch ehe ich die Post in der Küche auf den Tisch warf. Dann raste ich davon und suchte zusammen, was ich brauchte: Bleistift und Notizblock, ein Stück Bindfaden und eine Nadel.
In dem Schrank unter der Treppe hoben wir alles auf, was wir später einmal fortwerfen wollten. Dort fand ich auch alte Ausgaben des Journal. Ich breitete die Seiten mit den Datierungen aus, machte eine Liste der besten Aktien. Zwei Wochen sollten als Zeitspanne groß genug sein. Während ich so arbeitete, konnte ich Vera mit meiner Tante streiten hören, die sie gebeten hatte, ihr mit der Wäsche zu helfen. Vera wollte ins Kino gehen. Sie war mit einem Freund verabredet.
»Nein!« brüllte meine Tante. »Du bist zu jung, um dich zu verabreden.«
Vera sagte etwas, was ich nicht verstehen konnte. »Nein, nein, nie!«
Ich hörte es ganz deutlich. »Hör auf zu betteln. Wenn ich nein sage, meine ich auch
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