Das Netz im Dunkel
weißen Schuhe an. Ich stand ihr im Weg. Brutal schubste sie mich beiseite und eilte zur Haustür. Noch ehe meine Tante die Hintertreppe hinabgelaufen war, rief Vera: »Audrina, sag dieser Ziege, daß ich sie genauso verachte wie dich, deine Mutter und deinen Vater und dieses Haus! Ich gehe ins Dorf, und wenn ich dort bin, werde ich meinen Körper auf der Straße verkaufen. Ich werde mich direkt vor Papas Frisierladen stellen und schreien: ›Holt euch eure Whitefern!‹ So laut werde ich das rufen, daß mich sogar die Männer in der Stadt hören können, und dann kommen sie alle! Und ich werde reicher als ihr alle zusammen!«
»Du Hure!« brüllte meine Tante, rannte durch die Küche auf Vera zu. »Komm sofort hierher! Wag es ja nicht, die Tür zu öffnen und zu gehen!«
Aber die Tür wurde geöffnet und zugeworfen, noch ehe meine Tante auf die Veranda hinauslaufen konnte. Ich sah Vera um die Kurve verschwinden. Das Dorf war fünfzehn Meilen weit entfernt. Die Stadt dreißig. Würde sie per Anhalter fahren?
Meine Tante trat neben mich. »Bitte, erzähl deinem Vater nicht, was du da eben gehört hast. Es gibt Dinge, über die man besser nicht spricht.«
Ich nickte. Sie tat mir leid. »Kann ich irgendwie helfen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Weck deine Mutter nicht auf. Sie braucht Ruhe. Ich gehe nach oben. Du mußt dir dein Frühstück selbst machen.«
Samstags schlief Mammi gern lang. So hatte meine Tante Gelegenheit, in dem kleinen Zimmer neben dem Eßzimmer zu bleiben, wo sie ihren Fernseher stehen hatte. Sie schaute sich gern alte Filme und Fernsehserien an. Das war ihre einzige Unterhaltung.
Mein Appetit hatte mich verlassen. Ich zweifelte nicht im mindesten daran, daß Vera genau das tun würde, was sie angedroht hatte. Sie würde uns alle vernichten. Ich setzte mich und versuchte, nicht daran zu denken, was Arden und seine Mutter denken würden.
In meinem Kopf kreisten unglückliche Gedanken. Ich fragte mich, was Papa zu dem gemacht hatte, was er war: liebenswert und verabscheuungswürdig, selbstsüchtig und dann wieder großmütig. Er brauchte immer jemanden in seiner Nähe, vor allem, wenn er sich rasierte, und da Mammi das Frühstück zubereitete, war ich es meistens, die auf dem Badewannenrand hockte und ihm zuhörte, wenn er von all den interessanten Vorgängen in seinem Maklerbüro erzählte.
Ich stellte viele Fragen, die den Aktienmarkt betrafen,fragte, was der Grund dafür war, daß Aktien im Wert stiegen oder fielen. ›Nachfrage‹, lautete die Antwort für die Aufsteiger, ›Enttäuschung‹ war seine Erklärung dafür, wenn sie fielen. »Die Gerüchte von Firmenübernahmen und -verschmelzungen spielen eine wichtige Rolle dafür, daß Aktien in die Höhe schnellen. Aber bis die Allgemeinheit davon erfährt, ist es schon zu spät, um noch einzusteigen. Alle Banken und Großanleger haben dann bereits gekauft und sind bereit, dem armen, unwissenden Anleger etwas zu verkaufen, der dann zum Höchstkurs einsteigt. Wenn man die richtigen Verbindungen hat, weiß man, was vorgeht–wenn man diese Verbindungen nicht hat, sollte man sein Geld lieber auf der Bank liegenlassen.«
Stück für Stück eignete ich mir eine Menge Wissen über den Kapitalmarkt an. Das war auch gleichzeitig Papas Art, mir Mathematik beizubringen. Ich dachte an Geld nicht in Form von Cents, sondern im Punktsystem. Ich hörte von Aktien, die den Markt anführten, aber mit Sicherheit bald im Kurs sinken würden, und von Aktien, die den äußersten Tiefstand erreicht hatten, aber bald wieder anziehen würden. Er zeigte mir Diagramme und brachte mir bei, sie zu lesen, obwohl Mammi sich darüber lustig machte. Sie war der Ansicht, ich wäre noch viel zu jung, um das zu verstehen. »Unsinn! Ein junger Kopf nimmt schnell auf; sie versteht mehr davon als du.«
O ja, in gewisser Weise liebte ich meinen Vater sehr, denn wenn er mein Gedächtnis auch nicht erneuern konnte, so machte er mir doch Hoffnung für die Zukunft. Eines Tages würde er seine eigene Maklerfirma haben, und ich wäre dann seine Geschäftsführerin. »Mit deinen Gaben müssen wir einfach Erfolg haben«, sagte er immer. »Ich sehe es direkt schon vor mir, Audrina: D.J. Adare&Comp.«
Wieder einmal setzte ich mich über meine Liste der ausgewählten Aktien und vollführte meinen Trick mit Ring und Faden, und wieder landete meine Nadel zweimal auf derselben Aktie. Mein Herz schwoll vor Glück. Ich hatte es nicht der Vorsehung überlassen. Papa würde Geld haben, wenn
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