Das Netz im Dunkel
irgendwie helfe, und wenn ich es dann tue, gibst du vor, ich hätte es nicht getan. Papa, warum gibst du dir solche Mühe, mich davon zu überzeugen, ich sei etwas Besonderes, wenn du dann anschließend meine Listen fortwirfst, als würdest du es selbst nicht glauben.«
»Weil ich ein Dummkopf bin, Audrina. Ich will aus meiner eigenen Kraft gewinnen, nicht aus deiner. Und ichhabe dich bei deinem albernen, kleinen Spiel mit dem Ring und dem Faden beobachtet. Ich möchte Träume, ehrliche Träume, keine ausgedachten. Ich weiß, wann du ehrlich bist und wann nicht. Und ich werde dich zu dem machen, was du sein solltest, und wenn es bis ans Ende meines–und deines–Lebens dauert.«
Ich erstarrte, verängstigt durch seinen entschlossenen Ton. »Was soll ich denn sein?«
»Du sollst so sein wie meine erste Audrina«, erklärte er entschieden.
Mir wurde noch kälter; ich wich zurück. Vielleicht war er verrückt, nicht ich. Seine dunklen Augen folgten jeder meiner Bewegungen, als wollten sie mir befehlen, auf der Stelle zu ihm zu laufen und ihn zu lieben, wie sie ihn geliebt hatte–aber ich konnte nicht tun, was er wollte. Ich wollte nicht sie sein. Ich wollte nur ich selbst sein.
Ich schlenderte in den Salon und fand dort Vera. Sie lag auf Mammis purpurfarbenem Sofa ausgestreckt. Sie hatte es sich in letzter Zeit angewöhnt, immer auf Mammis Lieblingssofa herumzuliegen und die Taschenbücher zu lesen, die Mammi so geliebt hatte. Sie behauptete, sie würde aus diesen Liebesromanen viel über das Leben und die Liebe lernen. Und das schien tatsächlich der Fall zu sein, denn es waren bestimmt nicht nur ihre Medizinbücher, die diesen erfahrenen Ausdruck in Veras dunkle Augen zauberten, die jetzt noch glühender bückten und funkelten. Wieder und wieder sagte sie mir, sie würde es lernen, so schön und charmant zu sein, daß kein Mann bemerken würde, daß ihr linkes Bein kürzer war als das rechte.
»Vera«, fragte ich, »warum läßt du dein kürzeres Bein nicht strecken, wie dein Arzt es dir geraten hat? Er hat gesagt, es könnte noch genauso lang werden wie dasandere.«
»Aber das würde weh tun. Du weißt ja, daß ich keine Schmerzen ertragen kann, und außerdem hasse ich Krankenhäuser.«
»Wäre der Erfolg diese Schmerzen nicht wert?«
Sie schien den Erfolg gegen die Schmerzen abzuwägen. »Das habe ich auch einmal gedacht.«
Doch nach weiterem Nachdenken fügte sie hinzu: »Aber jetzt habe ich meine Meinung geändert. Wenn ich normal gehen könnte, würde meine Mutter mich zu einer Sklavin machen, wie sie Papas Sklavin ist und wie du die ihre bist. Aber so kann ich ein Leben in Luxus führen, wie deine Mutter es getan hat, während meine Mutter geschuftet hat, bis sie vollkommen erschöpft ins Bett fiel.«
Sie grinste boshaft. »Ich bin nicht dumm, du Närrin–oder ein Hohlkopf. Ich denke die ganze Zeit über nach. Und mein lahmes Bein wird mir bessere Dienste erweisen als dir deine beiden gesunden.«
Es hatte keinen Sinn, vernünftig mit Vera zu reden. Es mußte immer alles geschehen, was sie wollte. Vera wollte überhaupt nichts tun. Und wenn es ihr dienlich war–was häufig vorkam–,quälte sie mich mit der Erklärung, meine Mutter hätte ihre ständige Müdigkeit nur vorgetäuscht, um Papas Mitleid zu erregen und sich die Dienste ihrer Schwester zu sichern.
Als ich am nächsten Nachmittag zu Arden lief, blies der Wind Blätter umher, ließ sie über den Boden schweben. Gänse über mir zogen nach Süden. Bald würde der erste Schnee fallen. Wir waren beide bis zu den Ohren in dicke Mäntel gehüllt. Unser Atem bildete kleine, weiße Wolken vor unseren Gesichtern. Warum spazierten wir bei solch eisigem Wetter durch den Wald? Warum konnten wir nicht jeder ins Haus des anderen gehen wie andere Leute?
Ich seufzte, als ich ihn anstarrte. Dann schlug ich die Augen nieder.
»Arden, du weißt, warum ich dich nicht nach Whitefern einladen kann. Aber ich verstehe nicht, warum Billie mich nie in euer Haus bittet. Glaubt sie, ich sei nicht gut genug für euch?«
»Ich weiß, was du denkst, und ich verstehe dich.«
Er ließ den Kopf hängen, schien sehr verlegen. »Weißt du, sie bringt alles in Ordnung. Wir malen und tapezieren. Sie näht neue Kissenbezüge, Vorhänge, Überdecken. Vom Tag unseres Einzugs an hat sie daran gearbeitet. Aber sie muß immer wieder aufhören und für andere Leute nähen, und deshalb dauert es so lange. Unser Haus ist noch nicht schön genug. Aber eines Tages, schon bald,
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