Das Netz im Dunkel
Fluß, der einen Damm durchbrochen hatte. Alles, was mich verwirrte, quoll hervor, einschließlich Papas Beharren darauf, daß ich in diesem Schaukelstuhl saß und das Talent übernahm, das einmal meiner toten Schwester innegewohnt hatte. »Ich hasse es, ihren Namen zu tragen! Warum haben sie mir nicht meinen eigenen Namen gegeben?«
Er stieß einen mitleidigen Laut aus. »Audrina ist ein sehr schöner Name, und er paßt so gut zu dir. Sei deinen Eltern nicht böse, daß sie versucht haben, an einem außergewöhnlichen Mädchen festzuhalten. Nur–du bist auch außergewöhnlich, vielleicht sogar noch mehr…«
Aber ich bildete mir ein, ich hätte in seiner Stimme etwas gehört, das mir verriet, daß er mehr über mich wußte als ich selbst und daß er Mitleid mit mir hatte und mich vor allen Dingen vor dem schützen wollte, was ich nicht wissen durfte.
Aber gerade das, was ich nicht wissen sollte und nicht wußte, gerade das mußte ich wissen.
Dann, noch ehe ich wußte, wie mir geschah, lagen seine Finger unter meinem Kinn, und er schaute mir tief in dieAugen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, einem erwachsenen Mann so nah zu sein, der nicht mein Vater war.
Ich wich zurück, gemischte Gefühle erweckten etwas wie Panik in mir. Ich mochte ihn, und doch wollte ich nicht, daß er mich so ansah wie jetzt. Ich dachte an Papas Warnung, mit Jungs oder Männern allein zu sein, und eine flüchtige Vision von diesem regnerischen Tag im Wald tauchte vor meinem geistigen Auge auf.
»Was ist los, Audrina?« fragte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte dich nur beruhigen. Du bist nicht verrückt, du bist auf deine eigene, ganz besondere Art einfach wundervoll. In deiner Musik und in deinen Augen liegt Leidenschaft, wenn du dich nicht beobachtet fühlst. Eines Tages wird die Natur dich aufwecken, Audrina; dann wird die schlafende Schönheit in dir zum Leben erweckt. Unterdrücke sie nicht, Audrina. Laß sie heraus. Gib ihr eine Chance, dich zu befreien, und deine tote Schwester wird dich nicht mehr heimsuchen.«
Hoffnung erwachte in mir, als ich ihn bittend anstarrte, unfähig, meine Wünsche und Bedürfnisse in Worte zu fassen. Trotzdem verstand er. »Audrina, wenn du gern zur Schule gehen möchtest, dann werde ich einen Weg finden, um dir dabei zu helfen. Es ist gegen das Gesetz in diesem Staat, ein Kind daheim zu behalten, außer wenn dieses Kind geistig oder körperlich nicht in der Lage ist, am Unterricht teilzunehmen. Ich werde mit deinem Vater oder deiner Tante sprechen…und du wirst zur Schule gehen, das verspreche ich dir.«
Ich glaubte ihm. Es stand in seinem schokoladebraunen Blick geschrieben, daß er meinte, was er sagte. Ich weiß, daß meine Augen in diesem Augenblick vor Dankbarkeit für Lámar Rensdale leuchteten, und er schwor, schon am nächsten Tag meine Tante aufzusuchen. Ich warnte ihn,daß mein Vater ihm wahrscheinlich nicht zuhören würde.
In jenem Sommer schwammen Arden, Vera und ich im Fluß, fischten und lernten mit dem kleinen Boot zu segeln, das Papa gekauft hatte. Mit jedem Monat wurde Papa ein klein wenig reicher. Jetzt schmiedete er Pläne, das Haus wieder zu seiner ursprünglichen Pracht herrichten zu lassen. Er redete so viel davon, ohne irgend etwas zu tun, daß ich schon fürchtete, es würde niemals etwas geschehen. Aber es war jetzt auch nicht mehr wichtig, denn Mammi war tot.
Meine Tante war nicht mehr so griesgrämig wie früher, tatsächlich sah sie manchmal sogar richtig glücklich aus. Papa machte keine ironischen Bemerkungen mehr über ihr langes Gesicht und ihre knochige Gestalt. Er machte ihr sogar ein Kompliment zu ihrer neuen Frisur und dem Makeup, das sie jetzt auftrug.
Noch immer wollte Papa mir nicht sagen, warum er Sylvia nicht heimbringen konnte. Ich sparte von meinem Taschengeld, um Sylvia Rasseln und Beißringe zu kaufen, aber er brachte meine Schwester nie heim. Jetzt war sie schon zu alt für diese Dinge. Er erzählte mir, in der Klinik erlaubte man nicht, daß sie eigenes Spielzeug besaß. Ich verstand immer noch nicht, was mit Sylvia nicht in Ordnung war.
Von Tag zu Tag wurde Arden größer. Er war jetzt fünfzehn, wirkte aber viel älter. Schon machte er Pläne für seine Zukunft. »Bitte, halte das nicht für albern«, fing er vorsichtig an, »aber schon als Kind habe ich mir gewünscht, Architekt zu werden. In der Nacht träume ich von den Städten, die ich baue, funktionsgerecht und doch schön. Ich möchte auch die Landschaft planen,
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