Das Netz im Dunkel
was die Welt zu geben hat.«
»Aber ich verstehe dich nicht!«
»Dann denke darüber nach. Denke daran, wie groß seineAngst davor ist, alt zu werden und in ein Heim gesteckt zu werden. Für ihn ist das wie eine Phobie, eine Krankheit, Audrina. Wir müssen alle alt werden. Es gibt nichts, womit wir das verhindern könnten.«
»Aber, aber…«, stammelte ich, »warum versuchst du, mir zu helfen? Ich wußte ja nicht einmal, daß du mich magst!«
»Ich will versuchen, es dir zu erklären«, sagte sie und faltete die von der vielen Arbeit geröteten Hände im Schoß. »Als ich zurückkam, um mit meiner Tochter hier zu wohnen, wurde ich zur Dienerin gemacht. Ich hatte Angst, dir irgendwelche Gefühle entgegenzubringen. Ich hatte Vera, und Vera hatte niemanden außer mir. Das Dumme war, daß Vera Lucietta anbetete und mich schon bald dafür verachtete, eine Sklavin zu sein. Aber für mich hieß es: so leben oder fort. Ich hatte meine Gründe dafür, hierbleiben zu wollen. Und ich hatte recht…denn es wurde genauso, wie ich wußte, daß es werden würde, wenn ich nur Geduld genug aufbrachte.«
Mir stockte der Atem. »Erzähl mir mehr«, flüsterte ich.
»Wenn es um Schönheit ging, war deine Mutter immer die Siegerin, und ich beneidete sie natürlich. Ich war eifersüchtig auf ihre Figur, ihr Gesicht, ihr Talent, vor allem aber auf ihre Fähigkeit, die Männer dazu zu bringen, sie über alles zu lieben.«
Ihre Stimme wurde hart. »Es gab da einen Mann, den ich geliebt habe, nur einen einzigen–und dann hat er sie gesehen. Nachdem er sie einmal gesehen hatte, war für mich alles aus. Es tut weh, zu verlieren, Audrina, so weh, daß man sich manchmal fragt, wie man damit weiterleben kann. Aber ich habe weitergelebt, und eines Tages werde ich vielleicht sogar einmal gewinnen.«
Es traf mich hart, als ich plötzlich begriff; warum meineTante immer so eifersüchtig auf Mammi gewesen war und warum Mammi ihrer Schwester immer wieder an den Kopf geworfen hatte, daß sie immer alles bekam, was sie haben wollte, und meine Tante niemals. Tante Elsbeth hatte meinen Vater geliebt! Und obwohl sie mit ihm stritt und sein Verhalten mißbilligte, liebte sie ihn noch immer. Es kam mir so vor, als hätte ich das alles schon vor langer Zeit erraten und versucht, es in meinem Gehirn zu vergraben und zu vergessen.
»Tante Ellie, liebst du ihn sogar, wenn du weißt, daß er lügt und betrügt und weder Ehre noch Anstand besitzt?«
Aufgeschreckt wich sie meinem Blick aus. »Ich habe für einen Tag genug geredet«, erklärte sie knapp und ging mit einer frischen Tischdecke ins Eßzimmer hinüber. »Aber merk dir, was ich gesagt habe, und denk daran, daß die Dinge nicht immer sind, was sie zu sein scheinen. Vertrau keinem Mann und vor allem: Vergiß alle Träume, die dich beunruhigen.«
Sylvia
Die Zeit verging jetzt langsamer für mich. Ich hielt an meinen Erinnerungen fest. In meinem Tagebuch schrieb ich alle Erlebnisse auf und las sie täglich durch, um mir alles fest einzuprägen. Der Schaukelstuhl half mir in mehr als nur einer Hinsicht. Ich hatte mit ihm Frieden geschlossen. Ich hatte einen Ort, an den ich mich zurückziehen konnte, ein Heiligtum, wo ich Mammis Bild finden konnte, das auf den Wolken dahinschwebte.
Ich war elf Jahre und acht Monate alt in jenem Mai, als Sylvia heimkam. Meine Tante hatte dies bestätigt, und ich glaubte, daß sie mir diesmal die Wahrheit sagte. Sie bestätigte auch, daß Vera drei Jahre und zehn Monate älter war als ich. Nichts, so schwor ich mir, würde mich je wieder mein Alter vergessen lassen. Ich würde nicht zulassen, daß die grauen Nebel des Vergessens mich erneut umhüllten und wichtige Ereignisse verdunkelten. Ich sah in meinen Spiegel, sah kleine, harte Brüste, die sich unter meinen Sweatern abzeichneten. Ich trug lose Sweater, weil ich hoffte, daß Arden nichts bemerken würde, aber ich hatte ihn schon dort hinschauen sehen und gemerkt, daß er nicht wollte, daß ich ihn dabei ertappte. Ich sah andere Jungs in der Schule interessiert beobachten, wie meine Figur sich entwickelte. Ich ignorierte sie und konzentrierte mich auf Arden, der noch immer mit Vera in derselben Schule war. Was ich unter meinem Sweater hatte, war klein im Vergleich zu dem, was Vera zur Schau stellte, indem sie die engsten Pullover trug, in die sie sich hineinzwängen konnte.
Papa sagte nie etwas gegen Veras Aufzug. Sie durfte sich verabreden, durfte ins Kino und zu Schulbällengehen. Sie gehörte zu einem
Weitere Kostenlose Bücher