Das Netz im Dunkel
hinunter zu Tante Elsbeth. Ich vergaß Vera, als ich meine Tante sah, die immer so hart arbeitete, die Hälfte meiner Pflichten und den größten Teil von Veras Aufgaben erledigte, jetzt, wo auch ich nicht mehr den ganzen Tag daheim war.
Tante Elsbeth sah vom Geschirrspülen auf. Was ich in ihren dunklen Augen sah, überraschte mich. Sie strahlten, als hätte sie ihr ganzes Leben noch einmal vorbeiziehen sehen und endlich etwas gefunden, über das sie sich freuen konnte. Sie nannte Papa nicht mehr grausam, wie sie es früher getan hatte. Und er bezeichnete sie nicht mehr als eine wandelnde Bohnenstange mit der spitzen Zunge einer Xanthippe.
»Audrina«, fing sie an, und ich hörte sogar ein bißchen Wärme aus ihrer Stimme, »du mußt jetzt sehr vorsichtig sein, damit dein Vater dein Leben nicht völlig beherrscht. Bei Vera kann er das nicht, denn sie kümmert sich nicht darum, was er von ihr hält. Aber weil es dir wichtig ist, bist du verwundbar. Er ist egoistisch genug, um dir alles zu nehmen, was du brauchst. Er lügt und betrügt. Er ist verteufelt klug und liebenswert, aber–und es tut mir leid, daß ich das sagen muß–auch völlig ohne Ehre oderAnstand. Wenn es ihm irgendwie gelingt, wird er dich hier festhalten bis zu dem Tag, an dem er stirbt, und dir nie erlauben, ein eigenes Leben zu führen. Ich sehe, daß du ihn liebst. Und in gewisser Hinsicht möchte ich dich für deine Treue und Ergebenheit loben. Aber Blutbande sollen keine Ketten sein. Du schuldest weder ihm noch Sylvia dein Leben.«
Oh, was meinte sie damit?
»Er wird Sylvia im Frühling heimholen«, sagte sie mit leiser, monotoner Stimme, die mir Schauer über den Rücken jagte. »Wenn sie erst einmal hier ist, wirst du keine Zeit mehr für deinen Musikunterricht haben, auch nicht für irgend etwas anderes, weil du dich um sie kümmern mußt.«
Ich war glücklich und aufgeregt. Endlich würde Sylvia kommen. Aber meine Freude wurde überschattet von Tante Elsbeths Worten und ihrem Ausdruck. »Aber Sylvia ist im vergangenen September zwei Jahre alt geworden, Tante Elsbeth. Heißt das nicht, daß sie jetzt kein mühsames Baby mehr ist?«
Sie schnaubte. »Dein Vater möchte nicht, daß ich über Sylvia rede. Er möchte, daß du sie sehr lieb gewinnst, an ihr hängst. Ich warne dich, laß das nicht zu.«
Vollkommen verwirrt starrte ich sie an. Ich sollte meine eigene Schwester nicht lieben? Brauchte Sylvia denn meine Liebe nicht?
»Schau mich nicht so an. Ich denke an dich, nicht an sie. Sylvia kann nichts mehr helfen, und das ist schlimm. Aber du kannst gerettet werden, und das ist es, was ich versuche. Binde dich nicht so fest. Tu für sie, was du kannst, aber liebe sie nicht zu sehr. Später einmal wirst du mir dankbar sein, daß ich das jetzt gesagt habe und nicht erst, wenn es zu spät ist.«
»Sie ist ein Krüppel!« rief ich aus. »Warum hat Papa mir das nicht gesagt, Tante Elsbeth? Ich habe das Recht, es zu wissen. Was stimmt nicht mit Sylvia, Tante Elsbeth, bitte, sag es mir. Ich muß doch darauf vorbereitet sein.«
»Sie ist kein Krüppel«, sagte sie freundlich und sah mich mitleidig an. »Im Gegenteil, sie ist ein wunderhübsches Kind. In vieler Hinsicht sieht sie aus wie du in diesem Alter. Ihr Haar hat nicht die bemerkenswerte Farbe wie deines, aber sie ist ja schließlich auch fast noch ein Baby, und es kann sich noch ändern und genauso werden wie deines–und das deiner Mutter. Ich hoffe nur, daß sie eines Tages genauso aussehen wird wie du. Guter Gott im Himmel, wenn das geschehen würde, würde er dich vielleicht loslassen. Dann müßtest du nicht mehr diese albernen Traumspiele mitmachen, von denen er so viel hält. Für einen erwachsenen, intelligenten Mann kann er manchmal schon außergewöhnlich abergläubisch sein. Ich habe gesehen, wie du deinen Ring über den Aktienlisten hast pendeln lassen. Du bist also schlau. Aber sei auch klug genug, dich selbst in Sicherheit zu bringen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«
Was meinte sie?
»Audrina, hör auf meinen Rat und hör auf mit dem, was du tust. Versuch nicht, ihm zu helfen. Versuche statt dessen, in ihm das zu sehen, was er wirklich ist: jemand, der entschlossen ist, dich an sich zu fesseln in jeder nur erdenklichen Art und Weise. Er ist selbst davon überzeugt, daß du die einzige Frau auf der ganzen Welt bist, die seine Liebe und Ergebenheit wert ist, und dir will er alles geben, was er besitzt, ohne überhaupt zu merken, daß er dir damit das Schönste nimmt,
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