Das Netz im Dunkel
warme Brise vom Fluß zerzauste mein Haar.
Der große Rasen war von einem Mann aus dem Dorf gemäht worden; er hatte Unkraut gejätet, die Büsche beschnitten, den Weg auf der Vorderseite gefegt. Das Haus war frisch getüncht, das Dach war auch neu–so rot wie getrocknetes Blut, genau wie die Fensterläden. Wir hatten unsere besten Kleider an, um Sylvia daheim willkommen zu heißen. Auch Vera war da. Sie saß gelangweilt auf der Schaukel; ein kleines, geheimes Lächeln verzog ihre Lippen und ließ ihre dunklen Augen boshaft funkeln. Ich vermutete, daß sie weit mehr über Sylvia wußte als ich, so wie sie über alles mehr wußte als ich.
»Aud…driii…naaa…«, sang sie, »bald wirst du es sehen…wirst selbst sehen. Mensch, wirst duuuu traurig sein, daß du darum gebettelt hast, deine kleine Schwester herzuholen–denn ich will nichts mit ihr zu tun haben. Für mich existiert sie einfach nicht.«
Ich wollte mir meine Freude und Aufregung auf keinen Fall von Vera verderben lassen. Wahrscheinlich war sie nur eifersüchtig, weil es Mammis Baby war und nicht das meiner Tante.
»Audrina«, sagte meine Tante, »bist du wirklich so glücklich, wie du aussiehst?«
Sie selbst runzelte meistens die Stirn, wenn SylviasName fiel, und für sie war heute bestimmt kein glücklicher Tag.
»Seht nur, seht! Da kommen sie!« rief ich aufgeregt und zeigte auf Papas Mercedes, der zwischen den Bäumen auftauchte, verschwand und dann wieder auftauchte. Ich trat ein bißchen näher an meine Tante heran, die sich reckte und aufrecht und groß neben mir stand. Für einen Sekundenbruchteil griff ihre Hand nach meiner, aber sie nahm sie nicht. Hatte sie noch nie genommen.
Hinter uns kicherte Vera, die auf der Schaukel hin und her schwang und dabei ihr ›Duuu wirst traurig sein‹-Liedchen trällerte.
Der glänzende, schwarze Wagen hielt vor unserem Eingang. Papa stieg aus und ging zur Beifahrertür, öffnete sie–aber ich konnte niemanden dort sehen. Dann griff Papa hinein und holte ein winziges Kind vom Sitz.
Papa rief mir zu: »Das ist Sylvia!«
Er strahlte mich an, und dann stellte er Sylvia auf den Boden.
In diesem Augenblick hörte das Holz der Schaukel auf zu knarren. Vera erhob sich zögernd und kam näher. Ich sah aus dem Augenwinkel, daß ihre Augen auf mich gerichtet waren, als interessierten sie nur meine Reaktionen und Sylvia wäre ihr völlig egal. Nicht ein einziges Mal sah sie meine Schwester an. Wie merkwürdig!
Trotz Vera und trotz des grimmigen Gesichtsausdrucks meiner Tante war ich so glücklich, als ich das hübsche kleine Mädchen ansah, das meine Schwester war. Gleich darauf fand ich sie nicht nur hübsch, sondern wunderschön. Sie hatte leuchtende kastanienbraune Locken, rotblond, wo die Sonne darauf schien, und wie sie glänzten! Ich sah ihre kleinen, süßen Händchen mit denGrübchen darauf, die sie nun flehend nach Papa ausstreckte, damit er sie auf den Arm nahm. Er mußte sich bücken, um ihre Hand halten zu können; das tat er und führte sie zur Treppe. »Immer einen Schritt nach dem anderen, Sylvia«, ermutigte er sie. »So geht das, immer einen nach dem anderen.«
Wie hübsch die kleinen, weißen Schühchen waren, die sie anhatte. Was würde sie mir für Freude machen, eine lebende Puppe ganz für mich allein, die ich anziehen und mit der ich spielen konnte. Zu aufgeregt, um Worte zu finden, ging ich ihnen entgegen. Eine Stufe nur–dann blieb ich stehen. Irgend etwas…irgend etwas an ihren Augen, der Art, wie sie ging, wie sie den Mund hielt. Oh, lieber Gott–was war mit ihr nicht in Ordnung?
»Komm, Sylvia«, drängte Papa und zerrte an ihrer winzigen Hand. »Komm du auch, Audrina. Komm zu uns und lern die kleine Schwester kennen, die du unbedingt haben wolltest. Komm näher, damit du Sylvias aquamarinblaue Augen bewundern kannst, die so eine hübsche Form haben. Sieh nur, wie weit sie auseinanderstehen. Schau dir Sylvias lange, geschwungene Wimpern an. Betrachte all die Schönheit, die sie besitzt–und vergiß alles andere.«
Er brach ab, sah mich an und wartete. Vera kicherte und begab sich zu einem Platz, von wo aus sie mich besser beobachten konnte.
Ich war wie erstarrt, hatte in diesem Augenblick das Gefühl, daß die gesamte Natur nur darauf wartete, welche Entscheidung ich treffen, wie ich Sylvia beurteilen würde. Jetzt mußte ich meinen Schritt machen, aber ich konnte mich nicht rühren, konnte nichts sagen.
Papa wurde ungeduldig. »Schön, wenn du nicht zu uns kommen kannst,
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