Das Netz
T-Shirt des Mannes abgewischt hatte, schnitt sie erst ihre Hand- und dann ihre Fußfesseln durch. Erst danach blickte sie nach oben und bemerkte, dass die Steinplatte an der Wand durch den Aufprall nach hinten aufgeschwungen war und eine runde Öffnung von etwa einem Meter Durchmesser freigegeben hatte. Paula bückte sich, hob die Taschenlampe, die der Wächter bei seinem ersten Besuch hatte liegen lassen, vom Boden auf und leuchtete damit in das hinter der Öffnung liegende Loch hinein.
Was sie sah, verschlug ihr fast den Atem: Vor ihren staunenden Augen tat sich ein langer, aus dem Fels gehauener Stollen auf, in dem sich die Schienen einer Schmalspurbahn in der Dunkelheit verloren. Direkt unterhalb des Lochs stand eine kleine Lore, die mit Büchern und Zeitschriften gefüllt war.
Im fahlen Licht der Taschenlampe sah Paula, dass der Gang leicht abschüssig war, und an seinem Ende meinte sie einen schwachen Lichtschein erkennen zu können.
Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie den Raum nicht doch lieber durch die Tür verlassen sollte, durch die der Mann hereingekommen war. Der Schlüssel steckte noch immer im Schloss. Aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder, weil sie nicht wusste, was sie auf der anderen Seite der Tür erwartete. Also kletterte sie durch die Öffnung in der Wand und ließ sich vorsichtig auf die Lore hinabgleiten. Dann schaltete sie die Taschenlampe an und sah sich an, worauf sie saß.
Es waren feuchte, zerfallende und teilweise bereits verschimmelte Ausgaben englischer Klassiker wie Tom Jones , Jahrmarkt der Eitelkeit und so weiter, aber auch zerfledderte Flughandbücher für Jumbo Jets und andere Passagierflugzeuge. Offenbar hatte man das Zeug auf die Lore geworfen, um es später einmal zu entsorgen. Aber wo? Vielleicht am Ende des abschüssigen Tunnels?
Paula entdeckte an der rechten Seite der Lore einen langen Hebel. Sie steckte sich die Beretta griffbereit in den Hosenbund und schob dann den Hebel probehalber nach vorn. Sofort begann die Lore, der Schwerkraft gehorchend, die Schienen hinunterzurollen. Paula zog den Hebel wieder an, und die Lore blieb stehen. Anscheinend handelte es sich bei dem Hebel um eine Art Bremse.
Gerade als Paula ein paar Bücher von der Lore werfen wollte, um mehr Platz für sich zu schaffen, hörte sie auf der anderen Seite des Lochs aufgeregte Stimmen in einer Sprache, die sie nicht verstand. Offenbar hatte man die Leiche ihres Peinigers entdeckt.
Mit einem entschlossenen Ruck schob Paula den Hebel nach vorn, und die Lore setzte sich in Bewegung. Erst langsam, dann immer schneller rollte sie auf den Lichtschein zu, den sie zuvor schon gesehen hatte. Als sie erkannte, dass der Ausgang des Tunnels durch ein kräftiges Metallgitter versperrt war, zog sie mit zitternden Händen den Hebel nach hinten und brachte die Lore mit einem grässlich lauten metallischen Quietschen zum Stehen.
In der darauf folgenden Stille konnte Paula Stimmen hören und sah den tanzenden Lichtpunkt einer starken Taschenlampe, mit der jemand zu ihr herableuchtete.
Leise fluchend zog sie ihre Beretta, zielte sorgfältig und gab dann kurz hintereinander drei Schüsse auf den sich nähernden Lichtkegel ab. Die Schüsse gellten ohrenbetäubend laut durch den engen Stollen. Gleich nach dem ersten Schuss ging die Taschenlampe aus. Paula lauschte angestrengt in die Dunkelheit, konnte nun aber weder Schritte noch Stimmen hören. Eilig stieg sie von der Lore herab und presste sich in den engen Raum zwischen den Schienen und der Stollenwand.
Das ist meine letzte Chance, dachte sie und schob den Bremshebel so weit nach vorn wie möglich. Augenblicklich setzte sich die schwere Lore in Bewegung und wurde auf den steil nach unten führenden Schienen immer schneller, bis sie schließlich mit voller Wucht gegen das Gitter prallte und es aus seiner Verankerung riss.
Während die Lore im Nebel vor dem Stollenausgang verschwand, rannte Paula, so schnell es ging, auf den Eisenbahnschwellen nach unten.
Von draußen hörte sie zunächst noch ein metallisches Poltern und schließlich einen lauten Aufschlag, aber als sie das Ende des Stollens erreicht hatte, drang kein Laut mehr durch den dichten Nebel zu ihr herauf.
Wo war sie bloß? Weil sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte, suchte sie auf dem Boden herum, bis sie einen abgebrochenen Ast fand. Damit tastete sie dann vor sich den Weg ab, um nicht in eine verborgene Grube zu fallen. Ihrem Instinkt folgend, ging sie quer zu dem steilen
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