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weinen.»
Der Usbeke vergrub das Gesicht in seinen Händen, und Taylor sagte eine ganze Weile lang nichts. Er blickte auf das von den weit heruntergebrannten Kerzen unruhig beleuchtete Gesicht von Mustafa Chokay, auf den sauber getrimmten Schnurrbart, den seltsamen, westlich anmutenden Gehrock, die breite Krawatte und die schmalen Augen, die erwartungsvoll in die Kamera blickten. Taylor stand auf, ging hinüber zu der Fotografie und blies die rußenden Kerzen aus, als wolle er damit dem großen Patrioten Turkestans eine letzte Ehre erweisen.
«Danke, mein Freund», sagte Munzer und blickte auf. SeineAugen waren feucht. Taylor nahm wieder Platz und überlegte schweigend, wie er weiter vorgehen sollte.
«Gibt es denn irgendetwas, das wir tun könnten, um Ihnen wieder Hoffnung zu geben?», fragte er nach einer Weile.
«Nichts. Es tut mir leid, mein Freund, aber das ist die Wahrheit. Munzer Achmedow hat keine Hoffnung mehr.»
«Aber die Fünfzigerjahre sind lange vorbei, und seither hat sich viel verändert.
Wir
haben uns verändert. Wie können wir Ihnen das beweisen?»
«Mit nichts. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.»
«Wie wäre es, wenn wir etwas täten, das Ihnen zeigt, wie ernst wir Ihre Sache jetzt nehmen, Mr. Achmedow? Etwas ganz Besonderes.»
«Das können Sie nicht. Unmöglich. Also spielen Sie bitte nicht mit mir, mein Freund. Für so was bin ich zu alt und zu intelligent.»
Taylor zündete sich eine Zigarette an. Er musste jetzt sehr vorsichtig sein. Dies war ein entscheidender Moment. Machte er jetzt einen falschen Vorschlag, dann hatten sie Achmedow auf immer verloren, machte er den richtigen, dann war es möglicherweise der entscheidende erste Schritt über eine Grenze, die der Usbeke vor fünfundzwanzig Jahren gezogen hatte.
«Mr. Achmedow», sagte Taylor langsam. «Das Gedicht, das Sie mich vorhin aus dem Buch haben vorlesen lassen» – Taylor beugte sich vor und nahm das Buch vom Tisch – «das Gedicht mit dem Titel: ‹Wach auf, Kasache› …»
«Ja. Von Mir-Yakub Dulatow, einem großen Patrioten. Was ist mit dem Gedicht? Wollen Sie das Buch haben? Behalten Sie es, ich habe noch ein zweites Exemplar.»
«Hören Sie mich an, Mr. Achmedow. Wie wäre es, wenn wir dieses Gedicht über den turksprachigen Dienst von RadioLiberty in ganz Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan verlesen würden? Würde Ihnen das Ihr Vertrauen wiedergeben.»
«Ach was. Das geht doch nicht.»
«Wer sagt das?»
«Ich kenne die Regeln. Es ist verboten. Das Gedicht ist antirussisch, und amerikanische Sender dürfen nun mal keine antirussische Propaganda verbreiten. Weder Voice of America noch Radio Liberty. Keiner darf das. So sind die Regeln, das habe ich Ihnen doch gesagt. Genau das ist ja das Problem, mein Freund, haben Sie das denn nicht verstanden? Das ist genau der Grund, weshalb ich aufgegeben habe.»
«Und wenn diese Regeln keine Gültigkeit mehr hätten?»
«Bitte! Regeln sind nun mal Regeln.»
«Aber
wir
stellen die Regeln für die Radiosender auf, Mr. Achmedow. Und wenn wir uns entschließen, sie zu ändern, dann werden sie auch geändert. Und ich versichere Ihnen, dass jetzt andere Regeln gelten. Das wollte ich Ihnen eigentlich den ganzen Tag über vermitteln, aber Sie haben mir vor lauter Selbstmitleid nicht zuhören wollen.»
Munzer sah Taylor misstrauisch an, aber in seinen Augen blitzte ein Funken von Neugierde auf. «Okay. Nehmen wir an, dass Sie die Wahrheit sagen und die Regeln wirklich geändert wurden. Woran soll Munzer Achmedow das erkennen?»
«Indem er Radio hört. Oder andere für sich Radio hören lässt.»
«Wann?»
Taylor dachte nach. Er überlegte sich kurz, inwieweit er sich auf Edward Stone und dessen mysteriösen Freund in München verlassen konnte, und sprang dann ins kalte Wasser.
«Hören Sie mir gut zu, Mr. Achmedow, ich mache Ihnen jetzt ein Versprechen. Innerhalb der nächsten Woche wird imturksprachigen Service von Radio Liberty das Gedicht von Mir-Yakub Dulatow mit dem Titel ‹Wach auf, Kasache› verlesen werden. Sorgen Sie dafür, dass sich jemand das Programm anhört, und wenn das Gedicht gesendet wurde, rufen Sie mich an, und wir reden miteinander. Ist das in Vorschlag?»
Taylor gab Munzer seine Karpetland-Visitenkarte, auf der die Büronummer in Rockville stand. «Ist das ein faires Angebot?»
Er ließ dem Usbeken keine Zeit zu antworten und drückte ihm fest die Hand. Jetzt hatten sie eine Abmachung.
«Wenn wir uns das nächste Mal
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