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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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dasSpruchband sah, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte aus der Grabkammer in den Hof hinaus, zum Telefon. Die muslimischen Pilger folgten ihm und verschwanden laut rufend und deklamierend in den kleinen Straßen und Gässchen, die von dem Platz wegführten. Zehn Minuten später traf die erste Abteilung Milizsoldaten auf ihren Motorrädern ein und begann, gefolgt von einer zweiten und einer dritten Einheit, den ganzen Platz zu umstellen. Nach einer halben Stunde war auch die Armee aus einer nahe gelegenen Kaserne angerückt. Wie die Miliz setzte sich auch die Armee fast ausschließlich aus gebürtigen Usbeken zusammen, die allesamt recht betreten dreinschauten. Schon auf dem Weg zum Gur Emir hatten sie Gerüchte darüber gehört, was die Pilger in der Grabkammer vorgefunden hatten.
     
    Dass das Volk so aufgeregt und seine Hüter so erschrocken waren, hatte einen guten Grund, denn jeder Usbeke wusste, dass etwas Ähnliches schon einmal passiert war, fast vierzig Jahre zuvor. Auch damals war Tamerlans Grab geöffnet worden, und der Fürst des Krieges war mit grausamer Gewalt über die ganze Welt hereingebrochen. Die damalige Katastrophe hatte ihren Anfang genommen, als die Anhänger Lenins, die Jünger der Wissenschaft und des Fortschritts, mit ihren Tabellen und Messwerkzeugen nach Osten gekommen waren, um ihre Experimente am Grab des Emirs durchzuführen. Sie kamen auf Geheiß eines bekannten Wissenschaftlers, des Akademiemitglieds Gerassimow, dessen Name und akademische Würden den Einwohnern ständig vorgebetet wurden, wie die Beschwörungsformeln eines Häuptlings. Der begnadete Akademiker, so sagte man ihnen, sei Experte darin, aus Knochen und anderen Überresten das Gesicht eines Toten wiedererstehen zu lassen, und wolle seine magischen Fähigkeiten nun auch am Gesichtdes hochverehrten Eroberers Timur ausüben, jenes Mannes, der ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht und Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt hatte, sobald sie auch nur den geringsten Widerstand zeigten. Besagter Gerassimow wolle den Abstand zwischen dem Nasenrücken und dem Hinterhauptbein des großen Eroberers ausmessen, er wolle seinen Kiefer rekonstruieren und neue Haut über die fürstlichen Wangenknochen spannen. Die Usbeken hatten lauthals protestiert und Bittgesuche eingereicht, doch die Akademie in Moskau schenkte ihnen keine Beachtung.
    Gerassimows Leute kamen nach Samarkand, öffneten den gewaltigen Prunksarg und entnahmen ihm Tamerlans erlauchte Gebeine. Sie wollten herausfinden, erklärten sie, ob er tatsächlich lahm gewesen sei, wie es die Legende wollte, und maßen zu diesem Zweck seine Oberschenkelknochen und Schienbeine und führten weitere, ähnlich verdienstvolle Experimente durch. Womöglich hielten sie sogar einen Augenblick inne, um die Inschrift auf der Grabplatte zu lesen: «Erzittern soll, wer diese Ruhe stört» – was man sicherlich als jahrhundertealtes «Bitte nicht stören»-Schild hätte interpretieren können. Doch den Wissenschaftlern entlockte das offenbar nur ein müdes Lächeln, denn sie gingen mit ihren Brechstangen zu Werke und wuchteten den schweren Steindeckel vom Sarg   …
    Das war am 21.   Juni 1941, dem Tag, auf den die Geschichtsschreibung Hitlers Entschluss, die Sowjetunion zu erobern, datiert. Und so brach sich der Geist des Krieges an jenem Tag wahrhaftig Bahn, vielleicht sogar heftiger als je zuvor in den fünf Jahrhunderten seit Timurs Tod. Für die abergläubische Bevölkerung Zentralasiens lag es jedenfalls auf der Hand, was geschehen war. Ein klarer Fall von Ursache und Wirkung.
    Ebenso hätte es auch für jeden Amateurforscher auf derHand gelegen, der sich mit der Ethnologie des Orients befasste. Oder für einen Amerikaner auf der Durchreise, der diese erstaunliche Geschichte rein zufällig von ein paar befreundeten Pakistanern hört, so wie es Edward Stone eines Abends bei einem Besuch in Peschawar passierte. Für jemanden wie ihn war es nachgerade unmöglich, eine solche Geschichte zu hören und dabei nicht sofort darüber nachzudenken, was in den unermesslichen, schweigenden Landstrichen Zentralasiens wohl geschehen würde, wenn man das Grab noch einmal öffnete. Mit wenig Aufwand – man brauchte nur ein paar findige usbekische Agenten aus Peschawar – ließ sich ungleich viel Aufruhr verursachen. Anfangs war es noch ein Spiel für Stone, eine Möglichkeit, sein örtliches Netzwerk auf die Probe zu stellen und sich davon zu überzeugen, dass die Maschine gut geölt war und

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