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glaubte daran, dass dereinst ein Krieger geboren würde, der das Buch findet und es seinem Volk zurückgibt. Und schließlich kam ein Krieger auf diese Welt, dessen Geist heller strahlte als die Sonne. Sein Blick war gütig, sein Lächeln erfüllte mit Freude und Hoffnung und erfrischte die Müden wie Quellwasser in der Wüste, und seine Worte waren voller Weisheit. Dieser Krieger war der erhabene Lenin. Er hat die goldene Truhe mit dem wundersamen Buch gefunden und sie wieder geöffnet, für Usbekistan und die anderen unterjochten Völker unserer Welt.»
Überall auf dem Markt, in den Friseurläden und selbst in den Baracken der Milizsoldaten begannen die Usbeken, ihre Radios auszuschalten. Doch die Stimme leierte weiter:
«Lenin hat die Legende zur lang ersehnten Wirklichkeit gemacht. Unter seiner Führung hat sich das usbekische Volk den Arbeitern Russlands und ihren Klassenbrüdern im ganzen Land angeschlossen und den Kampf für Freiheit und Sozialismus begonnen.»
Und selbst als das letzte Radio ausgeschaltet war, fuhr die Stimme noch unbeirrt fort:
«Die sozialistische Revolution hat das Glück in das Heim eines jeden Usbeken gebracht und dem usbekischen Volk die Freiheit von sozialen, ökonomischen und nationalen Zwängen beschert. Lenin ist tot, doch der Leninismus lebt weiter. Er ist stark und unerschütterlich wie ein Fels.»
Stone hatte ganz instinktiv erfasst, dass dieses Gespinst aus Lügen keine weitere Generation mehr überdauern würde. An diesem Tag, wie an jedem anderen auch, machte sich die Bereitschaft zur Revolte in den kleinen Taten Einzelner bemerkbar, die teils so schlicht waren wie ein leise gemurmeltes Glaubensbekenntnisin einem offiziell gottlosen Staat. Die Belege dieser islamischen Revolution waren ebenso allgegenwärtig und unsichtbar wie der Staub in der Luft. Sie waren überall und nirgends, jeder und doch keiner glaubte daran. Ganz Usbekistan schien damit beschäftigt, die sowjetischen Herrscher lächelnd hinters Licht zu führen. Man war freundlich und zuvorkommend, nahm von Moskau widerspruchslos finanzielle Unterstützung und die Annehmlichkeiten des modernen Lebens entgegen, man trug an Festtagen seine Kriegsmedaillen und seine Parteiabzeichen und steckte seiner Frau nach der Geburt des zehnten Kindes den Mutterorden an, doch bei alldem glaubte man kein Wort des marxistischen Geredes, das man sich tagtäglich anhören musste, und wartete nur auf den rechten Moment, laut oder leise den systemfeindlichen Namen Gottes auszusprechen.
Hätte Stone an jenem Tag neben einem seiner weit verstreuten Informanten am Grab Kusam ibn Abbas’ gestanden, wäre er Zeuge eines weiteren kleinen Zeichens der bevorstehenden Revolte geworden. Es war nur eine Kleinigkeit, doch sie gehörte zu den vielen tausend rebellischen Samen, die über die Steppen Zentralasiens verstreut und zum Sprießen bereit waren. Das Ereignis trug sich am frühen Nachmittag zu, als sich ein Grüppchen usbekischer Bauern vom Markt her der Grabstätte ibn Abbas’, des Vetters des Propheten Mohammed, näherte.
Dann ging alles so schnell wie der Auftritt einer illegalen Straßentheatergruppe. Die Bauern erklommen die lange Treppe, die zum Grabmal hinaufführt, und betraten die kleine Kammer, wo sich eine Busladung russischer Touristen drängte und den Ausführungen eines beflissenen armenischen Fremdenführers zum örtlichen Volksglauben lauschte. Die Russen stapften mit ihren schweren Stiefeln durch den Raum und verschwendeten keinen Gedanken daran, dass sie sich auf heiligem Boden befanden. Fürsie war das nichts weiter als eine Kuriosität, ein Relikt jener von finsterem Aberglauben erfüllten Vergangenheit, die Zentralasien zur sehenswerten Touristenattraktion machte.
Das usbekische Grüppchen wich aus und blieb etwas abseits stehen, den Blick ehrfürchtig auf die hölzerne Verkleidung vor der Grabstätte gerichtet, doch die Russen versperrten ihnen die Sicht mit ihren Fotoapparaten und ihrem Fremdenführer, der lustige Anekdoten über die religiöse Praxis der Moslems zum Besten gab. Der aufrührerische Akt erfolgte in Sekundenschnelle. Als die Russen die Kammer verließen, gab einer der Usbeken seinen Brüdern und Schwestern das Zeichen, sich zu setzen. Sie knieten sich hin, mit dem Rücken zur Nordwand, die Frauen der Gruppe ein wenig abseits von den Männern, so wie der Koran es vorschrieb. Und als sie alle saßen, hob der Gesang an.
«
Allahu akhbar
», sang der Mullah, der eigentlich nur ein ganz normaler
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