Das Netzwerk
Bauer war und nie eine Koranschule von innen gesehen hatte. Falls er überhaupt einen Koran besaß, war er ganz sicher nicht in der Lage, ihn zu lesen. Doch an diesem Tag, in diesem Augenblick, war er der Mullah, der die Gläubigen zum Gebet rief.
«
Ashhadu anna la ilaha illa-Llah
.» Ich bekenne, dass es keinen Gott außer Gott gibt. Und das Grüppchen vor der Wand murmelte eine Antwort.
«
Ashhadu anna Muhammadan rasulu-Llah
.» Ich bekenne, dass Mohammed Gottes Prophet ist.
Der Bauer beeilte sich mit dem Beten, denn jeden Moment konnte die nächste russische Reisegruppe vom Eingang her hereintreten, wo sie noch in dem Buchladen stöberten, der atheistische Literatur und antiislamische Traktate verkaufte. Deshalb hatte der Mullah es eilig. Aber der Name Gottes verlor schließlich nichts von seiner Macht, wenn man ihn schnell aussprach.
«
Allahu akhbar
», wiederholte er erneut den Ruf zum Gebet. «
Ashadu anna la ilaha illa-Llah.
»
Dann deklamierte der ungelernte Mullah die Fatiha, die erste Sure des Koran. Er deklamierte, so schnell er konnte:
«Preis Gott dem Herrn der Weltbewohner,
Dem Allerbarmer, dem Allbarmherzigen,
Dem Herrscher am Tag des Weltgerichts.
Dir wollen wir dienen, dich um Hilfe anrufen.
Führe uns auf den rechten Weg,
Den Weg derer, denen du huldvoll bist,
Über die nicht gezürnt wird, die nicht irregehen.»
Die Männer und Frauen hoben die Hände ans Gesicht, verneigten sich, legten erneut die Hände ans Gesicht. Ihre Stimmen hallten in dem kleinen Raum, sie klangen wie ein gewaltiger Chor von Muslimen und nicht nur wie acht staubbedeckte usbekische Bauern. Ein alter Turkmene in blauem Mantel und weißem Turban trat herein, und seine Augen strahlten vor Glück darüber, das Gebet zu hören. Als er den Raum betreten hatte, hob er sogleich die Hände ans Gesicht und folgte dem Beispiel der Betenden. Ein paar weitere alte Männer stimmten in das Gebet ein, doch da näherte sich schon das Geräusch schwerer Stiefel und russisch sprechender Stimmen.
Und dann war alles so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Der Mullah erhob sich nach dem letzten Vers, und seine kleine Gruppe folgte ihm in einer Reihe nach draußen, hinaus in die Welt von Gottes und der sowjetischen Machthaber Gnaden.
Es dauerte fast einen Monat, bis der Bericht über diese Ereignisse in Usbekistan, zusammen mit einem halben Dutzend weiterer, ganz ähnlicher Berichte, seinen Weg nach Washington zu Edward Stone fand. Die Verzögerung war alles andere alserstaunlich, wenn man berücksichtigt, welchen Weg die Nachricht nahm. Genauso gut hätten sie von Rudyard Kiplings pathanischem Pferdehändler Mahbub Ali überbracht werden können, der jenes ferne Hinterland durchstreift. Ein auswärtiger Händler, der sie auf dem Markt von Samarkand erfahren hatte, gelangte mit einem klapprigen russischen Bus bis nach Termez an der südlichen Grenze Usbekistans, nachdem er eine Nacht in Karschi und zwei Nächte in Scherabad Station gemacht hatte. In Termez angekommen, begab sich der Mann ins Hinterzimmer eines Kaffeehauses und plauderte dort mit einem gewissen älteren usbekischen Herrn, der Verwandte in Kabul hatte. Von dort aus überquerte die Nachricht irgendwie – wie genau kann man sich zu fragen sparen – die angeblich undurchdringliche sowjetische Grenze nach Afghanistan, wurde Tagesgespräch in Masar-e-Sharif und Baglan und wanderte dann weiter über die große Hauptstraße bis nach Kabul. Von dort lief sie eifrig weiter, wie Wasser, das hangabwärts fließt, durch die Hügel und Täler des südlichen Hindukusch bis nach Pakistan. Und als sie schließlich Peschawar erreichte, wurde auch ein ganz spezieller Freund von Edward Stone darauf aufmerksam, ein Pakistani, der für eine Organisation mit dem nichtssagenden Namen
Inter-Services Intelligence Directorate
tätig und wie Stone am großen Spiel der Geheimdienste beteiligt war.
Als die Nachricht zu guter Letzt auf dem Schreibtisch seines Freundes in Washington landete, rief sie bei Stone ein Lächeln hervor, gefolgt von ausgiebigem Nachdenken und neuen Plänen für künftige Unternehmungen.
II
AMOS B. GARRETT
Istanbul/Washington
23. – 26. Januar 1979
4 Zumindest von außen machte das amerikanische Konsulat in Istanbul den Eindruck, einer Supermacht zu gehören. Es hatte seinen Sitz in einem schönen, alten Marmorgebäude in der Innenstadt, und wenn an sonnigen Tagen das Sternenbanner im frischen Wind flatterte, der vom Bosporus
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