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Sehenswürdigkeit in das sanfte Licht der usbekischen Ebenen. Einige muslimische Pilger hatten sich dem heiligen Ort bereits vor Morgengrauen genähert, um am Grab des großen Eroberers zu beten, der in Europa besser unter dem Namen Tamerlan bekannt ist. Obwohl dieser volkstümliche Kult den lokalen Statthaltern des dialektischen Materialismus ein Dorn im Auge war, konnten die Behörden doch nichts dagegen unternehmen. Und so kamen die Pilger jeden Morgen: Usbeken mit runden Gesichtern und viereckigen Kopfbedeckungen, ihre Frauen in Kleidern aus farbenfroher Seide einen Schritt hinter ihnen und hin und wieder auch ein paar Turkmenen in langen blauen Mänteln und hellblauen Turbanen, die sich ihre strähnigen Gabelbärte strichen.
Die Pilger warteten unter den Maulbeerbäumen rund um das Mausoleum darauf, dass der Wächter kam, das schwere Vorhängeschloss an der Eingangstür entfernte und sie, nachdem er vierzig Kopeken Eintritt kassiert hatte, in das Heiligtum einließ.Wenn sie gewollt hätten, hätten sie auch ohne ihn in das weitläufige, offene Gelände eindringen können: Es war nur durch ein klappriges Holztor und eine niedrige Mauer geschützt, die jedes usbekische Kleinkind mit Leichtigkeit überwunden hätte, und ringsherum erstreckte sich ein wahres Labyrinth privater Wohnhäuser, die ihre Geheimnisse hinter schlichten, weißen Mauern verbargen. Die sowjetischen Behörden machten sich nicht einmal die Mühe, nachts einen ihrer Milizsoldaten vor dem Tor zu postieren. Wozu hätte man diese Stätten bornierten Aberglaubens auch bewachen sollen? Das wäre den Verantwortlichen im Verwaltungsbezirk Samarkand geradezu lächerlich erschienen.
Endlich kam der Wächter, öffnete das Tor und ließ die Gläubigen in die Grabstätte ein. Respektvoll durchschritten sie den baufälligen steinernen Torbogen, überquerten den breiten Außenhof und betraten dann das Allerheiligste. Drinnen war es stickig und so dunkel, dass man kaum die blauen Kacheln an den Wänden erkennen konnte. Im mittleren Raum, wo der Sarkophag Tamerlans stand, brauchten selbst die usbekischen Pilger mit ihren scharfen Augen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Männer traten murmelnd von einem Fuß auf den anderen, die Frauen schlugen die Hände vors Gesicht und flüsterten Gebete. Und dann entdeckte eine alte Frau, eine Großmutter, deren Körperfülle sich einem reichen Kindersegen verdankte, etwas Eigenartiges.
«Allah!», rief sie aus und deutete auf das Grab.
Die übrigen Pilger schauten ebenfalls zu dem mit Nephrit überzogenen Sarkophag, der einmal grün gewesen war, nun aber aufgrund seines Alters und der mangelnden Pflege fast schwarz wirkte. Der schwere Deckel war ein Stück zur Seite geschoben. Man hatte das Grab des Kriegers geöffnet.
«Allah!», rief die alte Frau erneut, und ihre Stimme zitterte dabei.
«Der Fürst des Krieges hat sein Grab verlassen!», flüsterte der Älteste unter den Anwesenden. Er sagte es so zögernd und zugleich so hoffnungsvoll, wie wohl einer der Jünger Jesu am ersten Ostermorgen die Worte «Christ ist erstanden» gehaucht haben muss.
Der kleine Raum hallte vom Echo wider, als die anderen seine Worte wiederholten. Und während die Stimmen in der kleinen steinernen Kammer immer lauter wurden, stieß die alte Frau plötzlich einen Schrei aus und deutete über die Marmorplatten rund um Tamerlans letzte Ruhestätte hinweg auf eine schlichtere, erdverkrustete Grabstätte, dem sogenannten Grab des «Unbekannten Hadsch». Auf dem Grabhügel wuchs eine Pappel, so hoch wie ein Telegraphenmast. Und oben an der Pappel hing an einer Schnur ein Spruchband, das in arabischer Schrift verkündete: «
Allahu akhbar
!» – «Gott ist groß!»
«
Allahu akhbar!
», rief der ehrwürdige Alte, der als Junge noch gelernt hatte, den Koran zu lesen, bevor die Finsternis der Moderne über Zentralasien hereingebrochen war.
«Ahhh!», keuchten mehrere Usbeken.
«
La ilaha illa-Llah
», fuhr der alte Mann fort, die Worte des Koran zu zitieren: Es gibt keinen Gott außer Gott.
«Allah! Allah!», stimmte einer der Turkmenen an. Er wiederholte das Wort rasch hintereinander, mit jedem Atemzug, wie ein Sufi-Gebet. Andere stimmten in den Singsang ein, der rasch und immer lauter zu einem gutturalen Grollen anschwoll, bis die kleine Kammer von den Gefühlswallungen der Pilger widerhallte.
Der Lärm lockte auch den Wächter an, der sich im Laufschritt dem Mausoleum näherte. Als er das offene Grab und
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