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reibungslos funktionierte. Und außerdem war es ein bescheidener Versuch, seine eigene These zu belegen, dass die sowjetische Alleinherrschaft in Zentralasien tatsächlich zu bröckeln begann und einzustürzen drohte.
Am einfachsten ließen sich die elektronischen Auswirkungen überwachen. Eine Stunde nach der Entdeckung des geöffneten Grabes wurde das Programm von Radio Samarkand unterbrochen, und als es wenige Minuten später wieder auf Sendung ging, verlas der Radiosprecher Propagandamaterial, das vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Usbekistans für solche prekären Momente bereitgehalten wurde. Seine Stimme klang starr und ausdruckslos – das akustische Äquivalent eines von keinem Blinzeln unterbrochenen Blicks.
«Alles, was das Leben der Menschen in Samarkand und im ganzen Osten der Sowjetunion mit Freude und Glück erfüllt, geht zurück auf die verdienstvollen Taten der KommunistischenPartei und des erhabenen Führers der Revolution Lenin», verkündete die Stimme. «Die große sozialistische Oktoberrevolution von 1917 markiert den Anfang der Verjüngung einer uralten Stadt. Unter der Führung der Kommunistischen Partei hat das Volk von Samarkand die Vorgaben der Revolution umgesetzt, neue Schulen und medizinische Einrichtungen begründet, industrielle Vorhaben umgesetzt und die landwirtschaftliche Umgestaltung der Region eingeleitet. Genossen: In schweren Stunden hat das Volk von Samarkand Lenin ein Versprechen gegeben. Das Volk schrieb: ‹Verehrter Wladimir Iljitsch, wir geloben, stark zu sein und die Errungenschaften der Sowjetregierung zu verteidigen. Eher wollen wir selbst im Kampf fallen, als den Feinden der sozialistischen Revolution zu erlauben, die Sowjetregierung in Turkestan zu stürzen.›»
Am Mittag hatte sich die Nachricht bereits wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt verbreitet. Am schnellsten sprachen sich die Gerüchte auf den paar Kilometern zwischen dem Mausoleum und dem Markt herum, wo sich die Bauern aus der Umgebung tagtäglich versammelten, um Obst und Gemüse aus ihren Gärten und Feldern zu verkaufen. Der Markt war ein wundersamer Ort, in den die Segnungen der Sowjetherrschaft kaum vordringen konnten. Wie vor fünfhundert Jahren, als sich der Markt noch mitten auf der Seidenstraße befand, drängten sich dort Bauern und Kaufleute auf engstem Raum und priesen mit überschwänglichen Floskeln lautstark ihre Ware an.
Und damals wie heute waren Gerüchte das beliebteste Gut auf dem Markt. Die Frau mit dem roten Kopftuch, die Aprikosenkerne verkaufte, berichtete der Mandelverkäuferin von dem offenen Grab, die daraufhin zum Gewürzstand hinüberging und es der Alten mit dem Kardamom erzählte, was wiederum derenMann hörte, der es seinem Freund, dem Zwiebelverkäufer, zurief. So gelangte die Nachricht rasch auf die andere Seite des Marktes, zu den Kohlverkäufern, den Radieschenhändlern und den Frauen, die ihre Möhren zu kunstvollen Pyramiden stapelten, und von dort aus nahm sie ihren Weg bis in die entlegensten Ecken, wo Stoffe, Schuhe, Bücher und Haushaltswaren feilgeboten wurden. Die Leute stürmten sogar die Telefonzellen, deren schwarze Metalldächer an die traditionellen usbekischen Kopfbedeckungen erinnerten, um ihre Freunde in anderen Stadtvierteln anzurufen.
Am Nachmittag war der ganze Markt in Aufruhr. Zur Gebetsstunde erklomm ein Mullah das Dach eines Kaffeehauses am äußersten Ende des Platzes und rief «
Allahu akhbar
!» im klagenden Singsang eines Muezzins. Die Miliz, die schon seit dem frühen Vormittag zwischen den Marktständen patrouillierte, und ein paar Soldaten hefteten sich sofort an die Fersen des selbsternannten Muezzins, doch das erwies sich rasch als sinnlos. Immer wieder versperrten ihnen bullige Usbeken und kleine, tapsige Turkmenen den Weg. Sie leisteten keinen aktiven Widerstand, sondern blieben einfach stehen, wo sie waren, oder blockierten die Eingänge zu den Kaffeehäusern in der langsamen, unaufgeregten Art, die die Einwohner Zentralasiens an den Tag legen, wenn sie sich nicht drängeln lassen wollen. Nicht einmal der große Gott der Geschichte hätte sie dazu bringen können, das Feld zu räumen.
Währenddessen verströmte Radio Samarkand weiterhin seinen verbalen Balsam.
«Genossen», sagte der Sprecher. «Eine usbekische Legende erzählt von einem goldenen Buch in einer goldenen Truhe, das zu Zeiten blutiger Überfälle durch feindliche Stämme im Bodenvergraben wurde. Jahrhunderte gingen ins Land, und das Volk
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