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könnten sich ja noch treffen, wenn er wieder da sei. Zuverlässigkeit in diesen Dingen war Anna bei Männern nie wichtig gewesen. Das war so eine normale, mittelständische Tugend. Solide, zuverlässig, immer pünktlich – viel fehlte da nicht mehr zum Langweiler. Zahnärzte waren zuverlässig, Banker und Anwälte. Zuverlässigkeit war einfach abtörnend. Anna hatte schon immer eine Schwäche für Möchtegern-Poeten und Abenteurer gehabt, für die Männer mit den zerschlissenen Hemden und diesem gewissen Funken selbstzerstörerischen Leichtsinns. Solche Männer hatten einfach keine Zeit, pünktlich zu sein.
Doch jetzt, wo sie tatsächlich einen solchen Mann gefunden hatte, fragte sich Anna, ob sie ihre Ansichten darüber nicht noch einmal revidieren sollte. Natürlich war übertriebene Gewissenhaftigkeit bei Männern nicht besonders sexy, aber Nachlässigkeit war es auch nicht. Pünktlichkeit war nicht sexy, doch übertriebene Verspätung genauso wenig. Und es war eindeutig alles andere als sexy, bis Mitternacht im Motelzimmer zu hocken und darauf zu warten, dass Romeo endlich nach Hause fand.
Um halb eins kam Taylor schließlich. Er war sturzbetrunken und redete unzusammenhängendes Zeug von einem neuen Plan, den er mit Stone beim abendlichen Brandy ausgeheckt hatte: Sie wollten in Ostanatolien gemeinsam auf die Wildschweinjagd gehen. Er gab Anna einen feuchten Kuss, betatschte ihre Brüste und hatte offensichtlich vor, trotz seines hohen Alkoholpegels mit ihr zu schlafen. Doch als sie schließlich beide im Bett lagen und Anna darauf wartete, ihm dafür eine Ohrfeige verpassen zu können, war er bereits tief und fest eingeschlafen.
31 Der Hochsommer war angebrochen, als Alan Taylor nach Istanbul zurückkehrte. Über der Stadt lag ein heller Julidunst, und aus dem Flugzeugfenster betrachtet, glitzerte das Marmarameer im Sonnenlicht wie ein stiller Salzsee. Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt bat Taylor den Fahrer des Konsulats, ihn am Fährendock von Eminönü aussteigen lassen. Dieser Fleck an der Seraglio-Spitze unterhalb des Topkapi-Palasts war Taylors Lieblingsort in Istanbul, wenn nicht auf der ganzen Welt. Taylor fand es faszinierend, dass sich hier auf ein paar hundert Quadratmetern stellvertretend die ganze menschliche Komödie abspielte. Er mochte den schnatternden Chor der Brot- und Lotterielos-Verkäufer ebenso wie das zappelnde Gedränge der Menschen, die möglichst rasch auf die Nachmittagsfähren in Richtung Üsküdar und Besiktas wollten, er mochte das Gurgeln der Luftblasen unter den Rümpfen der ankommenden Boote, die, blaue Dieselwolken ausstoßend, draußen auf dem schwarzen Wasser darauf warteten, endlich anlegen zu können, und er mochte den Blick auf das Goldene Horn auf der anderen Seite des Bosporus, den steilen Hügel des alten Pera, auf dem jetzt riesige, neonhelle Reklametafeln von türkischen Banken und japanischen Elektronikkonzernen prangten. Wenn es irgendwo auf der Erde ein Schwarzes Loch gab, dachte Taylor, in das jegliche Materie unwiderstehlich hineingezogen wurde und auf Nimmerwiedersehen verschwand, dann war es mit Sicherheit das Fährdock in Eminönü.
Mit der lässigen Eleganz eines Fischs, den man zurück in seinen Lieblingsteich geworfen hat, bewegte sich Taylor durch die Menge auf die Galatabrücke zu. Auf der Fußgängerebene unterhalb der Fahrbahn ging er an einer langen Reihe von Restaurants vorbei, von deren selbstgebastelten Holzkohlengrillsihm der köstliche Duft von gebratenem Fisch in die Nase stieg. Auf dem schmalen Gehweg stauten sich in beiden Richtungen die Menschen, und Taylor ließ sich in dem sich langsam nach Osten bewegenden Strom geduldig so lange mittreiben, bis er nach ein paar Minuten auf der Seite von Pera angekommen war. Dort stieg er, immer noch von einer dichten Menschenmenge umgeben, den Hügel hinauf, wo die Türken vor den Schaufenstern kleiner Geschäfte stehen blieben, die Radios, Batterien, Badezimmerarmaturen, Linoleumfliesen, Lichtschalter, Bohrmaschinen und Videorekorder verkauften – eine wahre Arche Noah für fein säuberlich nebeneinander aufgereihte Gebrauchsgüter, Schaufenster für Schaufenster, Geschäft für Geschäft. Je näher sie dem letzten Steilstück des Hügels kam, desto mehr dünnte sich die Menge aus, bis nur noch die jüngeren Männer übrig blieben, die mit raschen Schritten auf die Giraffenstraße und das Rotlichtviertel zustrebten. Oben auf dem Gipfel des Hügels war Taylor dann allein. Erfrischt von
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