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er als grausamer armenischer Mörder.»
«Belastet Sie das nicht, dass er so viele Muslime getötet hat?»
«Nicht allzu sehr. Mir ist es lieber, man hasst mich als Mörder und nicht als Opfer.»
«Aber kein Mensch hasst Opfer.»
«Da irren Sie sich gewaltig», sagte Antoyan. «Das Gefühl, dasman Opfern entgegenbringt, ist oft noch viel grausamer als Hass. Man nennt es Verachtung. Das will ich auf keinen Fall.»
Anna wollte noch etwas einwenden, doch ihr armenischer Begleiter war aufgestanden. Eine Zigeunerfamilie hatte sich dem Restaurant genähert, um den Gästen Blumen zu verkaufen. Der Oberkellner versuchte, sie zu vertreiben, und der Wortwechsel wurde immer erregter. Da streckte Antoyan den Zigeunern über die Schulter des Kellners hinweg einen Zehnfrancschein hin und bekam dafür ein Sträußchen nicht mehr ganz frischer Nelken.
«Bitte, Monsieur, ermutigen Sie sie nicht auch noch», protestierte der Oberkellner, doch der Armenier beachtete ihn gar nicht. Er kehrte an den Tisch zurück und überreichte Anna die Blumen.
«Zu Hause in Eriwan», sagte er, «wären die Straßen der Innenstadt an einem so schönen Abend voller Frauen, die Nelken aus ihren Gärten verkaufen, viel schönere Nelken als diese hier. Ich schenke sie Ihnen als Symbol für das Lebendige und Reizvolle meiner Heimatstadt. Vielleicht kommen Sie ja eines Tages einmal dorthin und kaufen sich selbst ein paar.»
«Vielleicht.» Anna versuchte, sich diesen merkwürdigen Staat aus Cognacfabrikanten, Blumenverkäuferinnen und melancholischen Dichtern vorzustellen. «Aber ich wage es zu bezweifeln.»
Anna zahlte, ohne dass Antoyan Einspruch erhoben hätte, und sie machten noch einen Spaziergang an der Seine. Auf der kleinen Île St. Louis wimmelte es nur so von Menschen. Anna und Aram schlossen sich der Menge an, die in Richtung Notre Dame und Place St.-Michel strebte. Die Lichter der Stadt und der mondhelle Himmel glitzerten im Fluss, und unter der PetitPont glitt ein elegantes
bateau mouche
hervor. Aram legte den Arm um Anna, und sie ließ es geschehen. Sollte er ruhig glauben, dass sie seinen Verführungskünsten erlag – sie hatte immer noch die Kontrolle über das Verhältnis und würde es für ihre Zwecke nutzen.
Am Quai des Orfèvres führte Antoyan sie zu einer Bank etwas abseits der abendlichen Spaziergänger, griff sanft nach ihrer Hand und drehte die Handfläche nach oben.
«Ich werde Ihnen jetzt Ihre Zukunft voraussagen, liebe Miss Morgan», erklärte er.
«Sie können aus der Hand lesen?»
«Das gehört zu meinen orientalischen Fähigkeiten. Handlesen, Zaubersprüche, Wasserzauber. Wenn ich kein Mediziner geworden wäre, dann wäre ich sicher Schamane. Kommen Sie. Lassen Sie die Hand ganz entspannt, dann kann ich sie mir ansehen.»
Anna überließ ihm ihre Hand, und er vertiefte sich in die Linien, die sich durch das weiche Fleisch zogen. Während er damit beschäftigt war, musterte Anna seine Hände. Die Hände eines Arztes, stark, fest und behutsam. Sie malte sich aus, wie er wohl nackt aussehen würde. Er war kein schlanker Vollbluthengst wie Taylor, eher ein Gebirgspferd – kräftig und doch filigran genug, um sich auf schmalen Bergpässen sicher zu bewegen.
«Sie sind eine sehr schöne Frau», sagte er.
«Vielen Dank», sagte Anna. «Aber das lesen Sie doch jetzt sicher nicht aus meiner Hand.»
«O doch», sagte Aram. «Ich lese in Ihrer Hand und Ihrer Miene wie in einem offenen Buch.»
«Na dann, Svengali. Legen Sie mal los.»
«Ich sehe in Ihrer Hand, dass Sie viele Liebhaber hatten.»
«So viele nun auch wieder nicht», protestierte Anna.
«Doch die Männer waren alle zu schwach für Sie. Es waren selbstsüchtige Jungen. Sie wollten eine Mutter, eine Schwester, vielleicht auch nur ein Mädchen für eine Nacht. Aber keine Frau.»
Anna verspürte den Impuls, ihm ihre Hand wieder zu entziehen – nicht, weil es nicht gestimmt hätte, sondern gerade weil es so sehr stimmte. «Das ist wahr», sagte sie. «Aber das können Sie unmöglich an meiner Hand sehen.»
«Sie möchten sich in einen reifen, selbstsicheren Mann verlieben», fuhr Aram unbeirrt fort. «In einen Mann, der weiß, was Liebe ist.»
«Stimmt.»
«Aber im Augenblick sind Sie nicht verliebt.»
Annas Gedanken wanderten einen langen Moment zu Taylor. «Ja», sagte sie dann. «Vermutlich stimmt auch das.»
Antoyan vertiefte sich für eine weitere halbe Minute in ihre Hand. Man hörte nur den Wind, der ihnen um die Ohren strich, und in der
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