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kehre ich auch in zwei Wochen in meine Heimat zurück. Ich könnte durchaus noch ein weiteres Jahr hier an dermedizinischen Fakultät bleiben, vielleicht sogar länger, ich bin sehr gut in meinem Fach. Aber ich möchte zurück nach Hause und wieder mit Menschen zusammen sein, die so denken wie ich.»
«Wer sind denn Ihre Mit-Patrioten? Und was wollen sie?»
«Ich werde Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die Ihnen erklärt, wer wir sind. Unsere Dissidentenbewegung entstand im April 1965, als sich der Genozid an unserem Volk zum fünfzigsten Mal jährte. Die Apparatschiks, die die Republik Armenien führen, planten nicht einmal einen Festakt, um an dieses Ereignis zu erinnern. Das passte nicht ins Konzept, wie die Russen in solchen Fällen gerne sagen. Doch die einfachen Leute gaben sich damit nicht zufrieden. Sie identifizierten sich mit dem Schmerz, sie wollten ihn hinausschreien, um der Welt zu zeigen, dass sie immer noch existierten, und so gingen sie auf die Straße, zu Tausenden, ein riesiger, tränenreicher Marsch, der einen ganzen Tag währte und sich bis in den nächsten hineinzog. Die KG B-Zentrale und die Miliz sind fast wahnsinnig geworden, aber sie konnten nichts dagegen tun.»
«Sind Sie auch mitmarschiert?»
«Natürlich bin ich mitmarschiert. Ich war damals sechzehn, und wie alle anderen auch wollte ich es hinausschreien. Doch als wir mit dem Schreien fertig waren, wollten meine Freunde und ich noch mehr tun.»
«Und was?»
«Wir wollten ein richtiges Land aufbauen. 1968 haben einige meiner Altersgenossen eine Gruppe gegründet, die sich als Bewegung für ein selbstbestimmtes Armenien bezeichnete. Sie erklärten, dass keine Regierung in Eriwan rechtmäßig sein könne, die nicht durch freie Wahlen zustande käme. Das war 1968 eine höchst revolutionäre Idee, und viele kamen dafür ins Gefängnis.Die paar, die nicht verhaftet wurden, gingen in den Untergrund. Manche gingen sogar nach Beirut und schlossen sich den armenischen Geheimorganisationen an, die dort Anfang der Siebziger entstanden.»
«Und Sie?»
«Ich war vorsichtig und hielt mich zurück. Vielleicht hatte ich auch einfach nur Angst. Ich hatte einen Studienplatz an der Universität in Moskau bekommen, und alle Welt redete mir ein, dass ich es noch weit bringen würde. Ich wollte mir meine Chancen nicht verbauen. Als Wissenschaftler kann man in der Sowjetunion ein sehr gutes Leben führen, wenn man sich klug verhält, das wirft man nicht so einfach weg. Doch die ganze Zeit, während des Studiums und während der Arbeit, hielt ich Kontakt zu meinen alten Freunden. Sie waren alle ganz elektrisiert von den Aufrufen, türkische Diplomaten zu ermorden. All die Heißsporne wollten auf der Stelle nach Damaskus, zur ASALA, und Türken töten. Ich hielt das für einen furchtbaren Fehler.»
«Warum?» Anna ließ die Wellen seiner Argumente über sich hinwegspülen, in der Hoffnung, bald die Quelle zu sichten, aus der sie sich speisten.
«Aus all den Gründen, die ich Ihnen gestern Abend erläutert habe. Wir sind als Volk in der Vergangenheit gefangen. Wir wollen der ganzen Welt unsere alten Wunden zeigen, wir wollen, dass sie unser Leid mit uns feiert, sich gemeinsam mit uns erinnert, sich entschuldigt. Aber ich halte dieses Vorgehen für falsch. Es kettet uns doch nur noch mehr an den Kadaver der Vergangenheit, und irgendwann führt es dazu, dass wir denselben fatalen Fehler noch einmal machen.»
«Worin bestand denn dieser Fehler?»
«Wir erwarten Hilfe von der ganzen Welt. Die Türken sollensich bei uns entschuldigen, Moskau soll uns beschützen, und Amerika soll uns lieben. Wir warten ständig darauf, dass jemand Fremdes unserem Volk Würde und Identität verleiht. Aber ich habe genug davon. Als ich hierher nach Paris kam und endlich Gelegenheit fand, in Ruhe nachzudenken, habe ich festgestellt, dass mich die armenische Vergangenheit nicht mehr interessiert. Ich will eine armenische Zukunft aufbauen. Ich will, dass wir ein ganz normaler Teil der modernen Welt werden, wie alle anderen auch. Und ich habe ein Grüppchen von Leuten gefunden, die genauso denken wie ich.»
«Bravo», sagte Anna. «Aber allein werden Sie das niemals schaffen. Sie brauchen Hilfe.»
«Ich weiß. Darum sitze ich ja auch hier mit Ihnen. Ich weiß nicht genau, was Sie tun, Sie und Ihre sogenannte Stiftung, aber ich habe das Gefühl, dass Sie uns helfen können.»
Anna holte tief Luft. Nun war es also geschehen. Er hatte die Grenze ganz allein überschritten,
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