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zu haben. Und ich bin nicht in Geheimnisse eingeweiht, wen sollte das also interessieren? Meine Aufgabe hier in Paris ist es zu lernen, wie man vesikorenalen Reflux bei Kleinkindern diagnostiziert. Es geht um eine Erkrankung des Harntraktes – nicht um Staatsgeheimnisse. Deshalb hat man mich hierher geschickt. Alles andere … pff. Außerdem bin ich, wie gesagt, Armenier. In Moskau ist bekannt, dass wir Armenier unzuverlässig sind.»
«Und was macht Sie so unzuverlässig?»
Er legte den Kopf schief, als wäre das nun doch eine Frage, auf die er eigentlich nicht antworten durfte, tat es dann aber trotzdem. «Es gibt ein altes Sprichwort, das auch der hochverehrte George Orwell in einem seiner Bücher zitiert: ‹Trau einer Schlange eher als einem Juden und einem Juden eher als einem Griechen. Aber traue niemals einem Armenier.›»
«Das ist aber sehr ungerecht.»
«Sicher, aber auch lustig. Und auf ganz merkwürdige Weise sogar wahr. Armenier sind nicht allzu vertrauenswürdig.»
«Aber warum nicht?», fragte Anna. Sie hatte keine Vorstellung davon, wohin diese Unterhaltung führen würde, war aber fest entschlossen, diesmal ihn das Tempo bestimmen zu lassen.
«Weil wir zu viel gelitten haben. Wir gehen grundsätzlich von der Annahme aus, dass alle Welt uns hasst – ein paar Feinde mehr oder weniger machen da auch nichts mehr. Ich habe sogar den Verdacht, dass die Armenier es inzwischen richtig genießen,so allgemein verhasst zu sein. Es ist Teil unserer nationalen Identität.»
«Das klingt völlig verrückt», sagte Anna. «Nehmen Sie doch noch einen Schluck Wein.»
«Es ist überhaupt nicht verrückt. Wir Armenier sind Opfer eines geographischen Unfalls. Wir haben als Volk das große Pech, Shakespeare und die Sonette von William Wordsworth zu lieben und trotzdem auf den öden Steppen Ostanatoliens und des Kaukasus unser Dasein zu fristen. Stellen Sie sich das einmal vor! Ein Volk von Künstlern, Kaufleuten und Dichtern, umgeben von Menschen, deren Vorstellung von Wissenschaft darin besteht, die Kunst der Bastonade zu vervollkommnen, um ihre Gefangenen besser foltern zu können. Was für ein bizarrer geographischer Irrtum! Aber entschuldigen Sie, ich höre mich schon an wie ein Armenier.»
«Nehmen Sie noch einen Schluck Wein», wiederholte Anna. «Was meinen Sie damit, dass Sie sich anhören wie ein Armenier?»
«Dass ich rede, als wäre ich ein Opfer. Das ist der größte Fehler meines Volks. Wir Armenier sind verliebt in unsere Opferrolle. Wir lieben sie so wie ein Amputierter seinen Beinstumpf. Sie dient uns als Entschuldigung und als Daseinsberechtigung.»
Was für ein merkwürdiger Gedanke, dachte Anna und hatte plötzlich das Gefühl, das eigentlich jeder, den sie in den letzten Monaten kennengelernt hatte, von irgendeiner verrückten Idee besessen war. Stone, Taylor und jetzt dieser armenische Arzt. Vielleicht ja auch sie selbst.
«Wenn meine Freundin Ruth Mugrditchian jetzt hier wäre, würde sie Ihnen eins auf die Nase geben», sagte sie. «Sie würde Ihnen erzählen, wie die Türken ihren Urgroßvater kaltblütig erschossen haben und ihre Großtante halb tot im Straßengrabenauf dem Weg nach Aleppo liegen ließen. Und Sie werden ja wohl nicht behaupten wollen, dass Ruths Großeltern in ihre Opferrolle verliebt waren. Das wäre fast schon krank.»
«Vielleicht lässt sich das im Einzelfall nicht immer so genau nachvollziehen», sagte Antoyan. «Aber Sie sollten das ganze Pathos einmal beiseitelassen und all die Fälle gemeinsam betrachten. Es ist schlicht nicht möglich, dass eine Million Menschen innerhalb weniger Monate den Tod findet, wenn sie sich nicht irgendwie in ihr Schicksal fügen, wenn sie nicht auch dazu bereit sind, den Märtyrertod zu sterben. Darin liegt die große Gefahr einer Nation aus romantischen Dichtern wie Armenien. Solche Menschen begeistern sich auch leicht einmal für die Idee des Selbstmords. Und ich kann Ihnen versichern, Armenier lieben ihren Schmerz. Sie sind nicht so leicht bereit, ihn aufzugeben.»
«Und Sie?»
«Bei mir ist es anders. Ich will kein Opfer sein und bin auch keines. Und mein Vater war auch kein Opfer, ebenso wenig wie sein Vater.»
«Was waren sie dann?»
«Kämpfer. Mein Vater hat in Stalingrad gegen die Deutschen gekämpft, mein Großvater unter General Andranik, als die armenische Miliz zusammen mit der Roten Armee Baku und Kokand einnahm. Er hat zahllose Moslems erschossen. Ich bin überzeugt, den Aserbaidschanern und Usbeken galt
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