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gibt Restaurants, Theater, Parks. Für mich liegt der Triumph gerade darin. Armenien ist normal und lebendig, nicht außergewöhnlich und tot.»
«Aber was unterscheidet es von Moskau oder Kiew? Oder von Paris?»
«Es ist korrupter.»
«Ich dachte, Korruption ist inzwischen in der gesamten Sowjetunion ein Problem.»
«Das stimmt, aber das ist die slawische Korruption der Arbeiterklasse. In Armenien hingegen wurde die Korruption zur Kunstform erhoben. Sie ist die Seele der Wirtschaft.»
«Ich fürchte, das verstehe ich nicht ganz», sagte Anna. «Können Sie mir ein Beispiel geben?» Sie hoffte inständig, dass sie nicht zu übereifrig klang, zu gierig nach Informationen. Doch der junge armenische Arzt gab bereitwillig Auskunft.
«Nehmen wir etwa die Cognacfabrik in Eriwan», sagte er. «Es handelt sich um eines unserer lukrativsten Wirtschaftsunternehmen, untergebracht in einem gewaltigen steinernen Bau auf einem großen Berg mitten in der Stadt. Oft denken die Leute sogar, es müsste sich um ein Regierungsgebäude handeln! Nun sollte man meinen, das Ziel eines solchen Unternehmens sei es einfach, guten Cognac herzustellen, schließlich ist unser Cognac in der ganzen Sowjetunion berühmt. Aber so einfach ist das nicht.»
«Wie ist es denn dann?»
«Ziel des Unternehmens ist die Überschussproduktion, damit der Überschuss unter der Hand zu privatem Nutzen verkauft werden kann. Nehmen wir einmal an, die monatliche Produktion liegt bei fünftausend Flaschen Cognac. Die Fabrik behauptet, sechstausend Flaschen produziert zu haben, womit sie die monatliche Quote überschritten hat und ihren Bonus einstreichen kann. In Wahrheit hat sie aber siebentausend Flaschen produziert.»
«Und was passiert mit den zusätzlichen tausend Flaschen?»
«Genau das ist die Frage! Was passiert mit den zusätzlichen tausend Flaschen? Nehmen wir an, ich bin einer der Fabrikdirektoren. Dann schicke ich hundertzehn Flaschen an meinen armenischen Freund in Leningrad. Er quittiert den Empfang vonhundert Flaschen, was der Menge entspricht, die er ursprünglich bestellt hat. Anschließend schickt er mir das Geld für die zehn zusätzlichen Flaschen und verkauft sie selbst unter der Hand weiter. Vielleicht vereinbaren wir auch eine Art Tauschsystem: Ich schicke ihm Cognac, er schickt mir Leder. Das Leder tausche ich dann mit einem anderen armenischen Freund in Taschkent, der etwas Baumwollstoff übrig hat. So oder ähnlich wird mit allen tausend zusätzlichen Flaschen verfahren. Verstehen Sie?»
Anna nickte. Sie dachte an all die verschwundenen Flaschen und daran, wie schwierig es sein musste, ein Wirtschaftssystem unter Kontrolle zu halten, bei dem eine solche doppelte Buchführung gang und gäbe war.
«Das ganze System ist durch und durch korrupt», fuhr Antoyan fort. «Die Fäulnis ist das Einzige, was sich dort bester Gesundheit erfreut.»
«Das ist faszinierend», sagte Anna. «Und sehr hilfreich für meine Stiftung.» Der Armenier war fast leichtsinnig in seiner Offenheit darüber, wie sein Land funktionierte. Sie fragte sich, ob sie jetzt schon den Vorstoß wagen, ihn über die unsichtbare Grenze drängen sollte, hin zur Kooperation. Doch Doktor Antoyan lächelte schon wieder.
«Wissen Sie, was Radio Eriwan zu dem Thema zu sagen hätte?», fragte er.
«Nein. Was denn?»
«Frage an Radio Eriwan: Ist es möglich, den Kommunismus in Armenien aufzubauen? Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja. Aber es wäre uns doch lieber, wenn man ihn in Georgien aufbaute.»
Anna lachte, obwohl sie mit den Gedanken woanders war. Sie kam sich vor wie eine Vertreterin, die irgendwie versucht, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Freundlichkeit und Höflichkeitallein genügten nicht – irgendwann musste man sich doch hineindrängen.
«Hören Sie, Doktor Antoyan», sagte sie. «Meine Stiftung interessiert sich wirklich sehr für dieses Thema.»
«Welches Thema?»
«Die Korruption in der Sowjetunion.»
«Aha.»
«Wir würden gern mehr darüber erfahren. Vielleicht könnten Sie uns ja einen kurzen Bericht über die wirtschaftliche Lage Ihres Landes schreiben, in dem Sie kurz skizzieren, was Sie mir gerade erzählt haben? Es müssten nur ein paar Seiten sein. Natürlich würden wir Ihnen dafür eine angemessene Aufwandsentschädigung zahlen, wenn Sie einverstanden sind.»
Aram lächelte, als wüsste er genau, was es mit Annas angeblicher Stiftung auf sich hatte, doch sie ließ nicht locker. «Wie klingt das?», fragte sie.
Aram schwieg. Er saß
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