Das Netzwerk
dem Restaurant in Washington eingeschärft hatte. Es gehörte zu den Aufgaben eines guten Geheimdienstagenten, zu spüren, was das Gegenüber vom Leben erwartete, und ihm dann zu helfen, dieses Ziel zu erreichen. Auf ganz merkwürdige Weise ähnelte das dem Vorgehen einer Frau, die versucht, einen Mann zu verführen: Sie schafft eine Welt, halb aus Träumen gebaut, in der er seine geheimsten Hoffnungen und Sehnsüchte verwirklichen kann. Anfangs hatte Anna das als sehr feminine Auslegung der Geheimdienstarbeit empfunden, doch im Lauf dieses Jahres hatte sie vor allem eines gelernt, dass Margaret nämlich mit ihren anfänglichen Ratschlägen völlig richtig gelegen hatte. Der Männlichkeitsmythos des Geheimdienstes war schlichtweg Quatsch. Wenn man einmal von gelegentlichen Blindgängern wie Ali Ascari absah, ging es in der Spionagebranche keineswegs darum, Leuten die Eier abzureißen oder die Daumenschrauben festzuziehen, sondern darum, sie zu umwerben, ihnen zu schmeicheln, Einblick in ihre Träume und Albträume zu bekommen und diese ganz privaten Visionen in die Sprache der profanen Welt zu übersetzen. Es ging darum, die Kandidaten zum gemeinsam anvisierten Ziel zu führen, wenn auch manchmal auf recht verschlungenen Wegen.
Ein nachdrückliches Klopfen an der Tür riss Anna aus ihren Gedanken, und trotz aller gelassenen Vorbereitung verspürte sie nun plötzlich einen heftigen Anfall von Lampenfieber, wie eine Schauspielerin kurz vor der Premiere eines neuen Stücks. Dabei hätte sie sich gar keine Sorgen zu machen brauchen, denn ohne dass Anna etwas davon ahnte, war Doktor Antoyan mit der Absicht ins Hotel Bristol gekommen, dort sein ureigenstes Stück aufzuführen.
Als der Armenier Platz genommen hatte und mit seinem Wodka versorgt war, beugte er sich mit ernstem Gesicht zu Anna hinüber. Die sonst so typische, leicht belustigte Nachdenklichkeit war aus seiner Miene verschwunden. Er wollte Klartext reden. Und während Anna noch überlegte, wie sie anfangen sollte, kam Doktor Antoyan ihr zuvor.
«Ich muss Ihnen etwas sagen», begann er.
«Das trifft sich gut», sagte Anna. «Ich muss Ihnen nämlich auch etwas sagen.»
«Nun, wenn Sie nichts dagegen haben, fange ich an. Das macht es für Sie vielleicht leichter. Oder auch schwieriger, je nachdem. Jedenfalls war ich nicht ganz ehrlich mit Ihnen.»
Ach du Schande, dachte Anna. Jetzt wird mir dieser durchgeknallte Armenier gleich beichten, dass er für den KGB arbeitet und mich anwerben will.
Doch das war es gar nicht. Etwas umständlich, was sonst gar nicht seine Art, unter den gegebenen Umständen vielleicht aber durchaus verständlich war, begann Antoyan.
«Was wissen Sie über die Sowjetunion, Miss Morgan?», fragte er.
«Das eine oder andere», antwortete sie. «Allerdings nicht allzu viel.» Sie sah ihn an und merkte, dass er seinen schwarzen Bart seit dem Abend zuvor ein wenig gestutzt hatte. Und plötzlichschien ihr dieser Bart nicht mehr Ausdruck eines kreativen Lebensstils zu sein, sondern ein Mittel der Tarnung und der Macht.
«Auf den Rest der Welt», fuhr er fort, «wirkt der sowjetische Staat vermutlich wie ein unerschütterlicher, unangreifbarer Koloss. Wenn man dort lebt, merkt man aber, dass das keineswegs der Fall ist. Im ganzen Land gibt es Menschen, die im Westen als ‹Dissidenten› bezeichnet werden. Sie sind überall. In meiner Altersgruppe findet man niemanden, der nur ein bisschen Verstand besitzt und nicht im Herzen davon überzeugt wäre, dass die große Sowjetunion ein krankes, sterbendes Tier ist.»
Anna nickte. Sie musste an das denken, was Edward Stone zu Anfang dieses sonderbaren Unternehmens gesagt hatte. Er hatte ganz ähnliche Worte verwendet, um den Niedergang des sowjetischen Staates zu beschreiben.
«Diese Dissidenten gibt es überall in der Sowjetunion», wiederholte Antoyan, «und am zahlreichsten sind sie in meiner Heimat. Doch in Armenien bezeichnet man sie nicht als Dissidenten. Man nennt sie Patrioten.»
«Und Sie sind ein solcher armenischer Patriot», sagte Anna. Sie glaubte, die ersten Ausläufer dessen zu spüren, was nun kommen würde.
«Ja. Trotz all der Dinge, die ich gestern Abend gesagt habe, bin ich ein armenischer Patriot. Ich bin kein Politiker, ich verabscheue die Politik sogar, so wie es jeder ernstzunehmende Wissenschaftler tut. Aber ich liebe mein Land auf eine Weise, die weit über das Politische hinausgeht.»
Anna nickte wieder. «Ja, das hatte ich schon vermutet», sagte sie.
«Deshalb
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