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ganz ruhig da, und das Lächeln spielte immer noch um seine Lippen.
«Was halten Sie davon?» Anna flüsterte fast.
Doch der armenische Arzt schwieg weiterhin. Nach ein paar weiteren, quälenden Sekunden warf er einen Blick auf die Uhr, machte eine Bemerkung über die fortgeschrittene Stunde und erklärte, er müsse langsam zurück in sein Wohnheim in der Cité Universitaire. Als er aufstand, verspürte Anna Übelkeit. Sie war überzeugt, ihre erste und vermutlich einzige Chance verspielt zu haben, den jungen Armenier anzuwerben, und dieses Gefühl ließ auch nicht nach, als Doktor Antoyan sie zum Abschied sanft und zärtlich auf die Wange küsste.
Tags darauf jedoch erhielt sie seine Antwort: eine einzelne, maschinengeschriebene Seite in einem verschlossenen Umschlag,den er im Büro von Danielle Marton abgab. Anna war überrascht, als Danielle anrief, um ihr zu sagen, Doktor Antoyan habe eine Nachricht für sie hinterlassen, denn sie hatte bereits befürchtet, nie wieder von ihm zu hören. Noch viel überraschter war sie allerdings, als sie die Nachricht las. Der ganze Brief lautete folgendermaßen:
Einige Betrachtungen über die Sowjetunion
Frage an Radio Eriwan: Was ist eigentlich das Merkwürdige an den Zimmern 1714 und 2114 im Hotel Rossija in Moskau? Antwort: Sie liegen direkt nebeneinander.
Frage an Radio Eriwan: Sollte man als Volkskommissar die Bürotür schließen, wenn man mit seiner Sekretärin schlafen will? Antwort: Besser nicht, sonst denken die Leute, man würde saufen.
Frage an Radio Eriwan: Sollte eine Frau einen Mann heiraten, der für den Mord an seiner ersten Frau eine Gefängnisstrafe verbüßt hat? Antwort: Warum nicht? Er ist schließlich Junggeselle.
Frage an Radio Eriwan: Ist es erlaubt, auf dem Lenin-Platz in Tbilisi mit einer Frau zu schlafen? Antwort: Im Prinzip ja. Man muss allerdings damit rechnen, dass Passanten stehen bleiben, um Ratschläge zu geben.
Frage an Radio Eriwan: Können wir den Sozialismus auch in Frankreich einführen? Antwort: Im Prinzip ja. Aber warum sollten wir?
Annas erster Gedanke war, dass es ein Code voll tieferer Bedeutung sein müsse, vielleicht auch ein Trick. Schließlich würde doch kein normaler Mensch mit einer Liste von Witzen auf eine solche Anfrage reagieren. Doch dann dachte sie an Antoyan, anseine verführerischen Blicke während der Unterhaltung, und kam zu dem Schluss, dass die einzige tiefere Bedeutung dieser Nachricht womöglich darin bestand, dass er mit ihr ins Bett wollte. Gut, dachte sie. Das ist doch zumindest ein unverfänglicher Anlass. Sie rief Danielle an und bat sie, den armenischen Arzt für sie anzurufen.
«Ruf ihn doch selbst an», erwiderte die französische Journalistin. «Die Nummer ist 537 17 77.» Sie klang etwas schnippisch.
Anna rief Doktor Antoyan noch am selben Nachmittag im Labor an und schlug ihm vor, sich zum Abendessen zu treffen. «Gerne», erwiderte er, und Anna entschied sich ganz bewusst für ein gehobenes Restaurant, das sich Aram von seinem Forschungsstipendium keinesfalls leisten konnte: ein kleines, elegantes Lokal auf der Île St. Louis, wo ihr Vater vor Jahren Stammgast gewesen war. Als sie die Reservierung machte, erwähnte sie ganz nebenbei, die Tochter von Botschafter Barnes zu sein, und man versprach ihr prompt einen Tisch auf der Terrasse mit Blick auf die Seine. Auf dem Weg zurück zum Hotel hatte Anna plötzlich das Gefühl, ihre gesamte Garderobe nicht mehr sehen zu können. Sie war im Bristol abgestiegen, ganz in der Nähe der edlen Boutiquen in der Rue du Faubourg-St.-Honoré, und aus einer Laune heraus blieb sie stehen, um in einer der elegantesten zu stöbern. Eine halbe Stunde später trat sie in einem neuen Tweedkostüm mit engem Rock und kurzer, taillierter Jacke wieder nach draußen und hatte sich von der Verkäuferin außerdem noch zu einer neuen Seidenbluse mit verführerischem Ausschnitt überreden lassen.
«Warum sind Sie eigentlich so offen zu mir?», fragte sie Antoyan, als sie das erste Glas Wein geleert hatten. «Ich dachte, Russen müssten Ausländern gegenüber extrem vorsichtig sein.»
«Ich bin Armenier», sagte Aram. «Kein Russe.»
«Ich meinte ja auch ‹Sowjetbürger›. Im Prinzip läuft das doch auf dasselbe hinaus. Haben Sie denn keine Angst, dass jemand sieht, wie Sie mit einer Amerikanerin reden, und das meldet oder Sie zum Verhör zitiert?»
«Überhaupt nicht. Ich bin Wissenschaftler. Es gehört zu meiner Arbeit, mit Ausländern Kontakt
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