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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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innerhalb weniger Stunden zu Leibeigenen. Stone hatte Moskau einmal als einen riesigen Versuchskäfig bezeichnet, die nur dazu diente, ein bestimmtes Verhalten zu konditionieren. Das galt für Ausländer ebenso wie für Sowjetbürger.
    Anna wickelte sich in das Badetuch und ließ die Haare an der Luft trocknen. Sie dachte ernsthaft daran aufzugeben. Nach der Szene am Flughafen schien es ihr durchaus möglich, dass ihre Identität bekannt war, doch das größere Problem war die Verspätung des Fluges nach Eriwan. Wenn sie nicht rechtzeitig ankam, um Doktor Antoyan noch zu finden, war die ganze Reise zwecklos. Sie beschloss, einen Spaziergang zu machen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es war inzwischen später Nachmittag, Novemberkälte lag in der Luft.
    Sie überquerte den Karl-Marx-Prospekt und sah im schwindenden Nachmittagslicht den Wachposten am Lenin-Mausoleum zu. Vor dem Mausoleum ließ sich ein frischverheiratetes sowjetisches Paar fotografieren, die Braut im weißen Hochzeitskleid.Was für ein schauerlicher Start ins Eheleben, dachte Anna. Wahrscheinlich waren beide in der Partei. Sie folgte ihnen über den Platz bis zur U-Bahn -Station, betrat dann aus einem Impuls heraus die Metro, zahlte ihre fünf Kopeken und fuhr bis zum Komsomolskaja-Platz. Dort stieg sie um und fuhr mit der Ringlinie bis zum Kulturpark am anderen Ende der Stadt und dann mit der roten Linie zurück zum Marx-Prospekt. Sie achtete nicht auf mögliche Verfolger und versuchte auch nicht, sie abzuschütteln – sie wollte einfach die fremde Stadt etwas besser kennenlernen, wie es Touristen nun einmal tun. Trotzdem hatte sie in den halbleeren U-Bahn -Waggons das angenehme Gefühl, völlig unbeobachtet zu sein. Das genügte, um ihr in der Nacht vom 8. auf den 9.   November zumindest ein paar Stunden unruhigen Schlafs zu bescheren.
    Am nächsten Morgen wachte Anna früh auf und stieg in den Wagen, der sie wie vereinbart zum Flughafen Wnukowo im südwestlichen Teil der Stadt brachte. Dort ging sie an den Intourist-Schalter, wo sie von einer Matrone mit steinerner Miene erwartet wurde. Nein, es gab bisher noch keine Informationen darüber, wann der verspätete Flug nach Eriwan starten würde. Doch, es gab noch einen weiteren Flug nach Eriwan in fünfzig Minuten, aber da war kein Platz mehr frei. Es handelte sich um einen Spezialflug. «Ausgebucht», wiederholte die Frau immer wieder, «ausgebucht.» Sie schlug Anna vor, sich ins Flughafencafé zu setzen und etwas zu essen, sie werde sie dort abholen, wenn das Flugzeug startbereit sei. Das klang immerhin halbwegs vernünftig. Doch eine Stunde, mehrere Tassen Tee und ein klebriges Schokoladen-Éclair später hatte sich die Dame immer noch nicht blicken lassen, und so stand Anna schließlich wieder vor dem kleinen, hölzernen Schalter des Intourist-Büros.
    «Noch nicht Zeit, noch nicht Zeit», erklärte ihr die matronenhafte Beamtin, doch schließlich hatte sie Mitleid mit der verzweifelten Anna und wies ihr einen Platz auf dem Sofa im Büro der Reisegesellschaft zu. Dort saßen bereits zwei weitere Amerikaner, Dickran und Marj Kazanjian aus Glendale, die ebenfalls auf den verspäteten Flug nach Eriwan warteten.
    «Sagen Sie ruhig Dick zu mir.» Dickran Kazanjian senkte die Stimme. «Und keine Sorge. So was passiert bei Aeroflot angeblich ständig.»
    «Man kann nichts weiter tun als warten», setzte Marj Kazanjian hinzu. Sie hatte immerhin ihr Strickzeug dabei.
    Also warteten sie, den Vormittag über bis zum frühen Nachmittag. Es wurde elf Uhr, zwölf Uhr, ein Uhr. Dick und Marj schlugen vor, etwas essen zu gehen, doch Anna hatte keinen Hunger. Kurz nach zwei verkündete die Intourist-Dame schließlich, sie habe gute Neuigkeiten. Der Flug 837 nach Eriwan werde bald starten.
    «Und wann?», fragte Anna.
    «Um fünf Uhr.»
    «Aber da sollte der Flug 837 doch auch gestern starten», sagte Anna. «Warum sagen Sie uns denn nicht einfach, dass der Flug gestern gestrichen wurde?»
    «Der Flug 837 hatte Verspätung», erklärte die Intourist-Dame, und ihr Ton ließ keine weiteren Diskussionen zu.
    Inzwischen machte die Verspätung Anna ernsthaft Sorgen. Der Flug von Moskau sollte drei Stunden dauern, zudem war es in Eriwan eine Stunde später. Sie würde also frühestens kurz nach neun dortiger Zeit auschecken, dann eine weitere Stunde brauchen, um zu ihrem Hotel zu kommen. Sie konnte also frühestens um zehn Uhr abends mit der Suche nach Doktor Antoyan beginnen. In der Klinik war er um diese

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