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Zeit mit Sicherheitnicht mehr, und abgesehen von dieser Adresse hatte Anna nur noch die Anschrift seiner Eltern.
Die Maschine hob schließlich um zwanzig nach fünf ab, und Anna hatte das Gefühl, als wollte der Flug kein Ende nehmen. Sie saß auf einem Mittelplatz, eingezwängt zwischen einer sanftmütigen Armenierin Mitte fünfzig und einem redseligen alten armenischen Herrn, der seinen Sitznachbarn lautstark seine Ansichten kundtat – auch Anna, obwohl sie kein Wort verstand. Sie versuchte, sich mit dem Graham-Greene-Roman über die Lepra-Klinik abzulenken, merkte aber irgendwann, dass sie zum wiederholten Mal dieselbe Seite las. Eine russische Stewardess verteilte kaltes Hühnchen in Frischhaltefolie. Anna verzichtete, doch ihre Mitpassagiere verzehrten ihre Portion mit Appetit und gaben die fettigen Knochen anschließend der Stewardess zurück.
Dass sie sich Eriwan näherten, merkte Anna daran, dass sich plötzlich alle Passagiere auf ihre Seite des Flugzeugs hinüberdrängten. Auch die Armenierin neben ihr drückte die Nase an die Fensterscheibe, rückte dann aber ein wenig zur Seite, damit Anna auch etwas sehen konnte. Links vom Flugzeug sah man im Mondlicht einen Gebirgszug mit schneebedeckten Gipfeln.
«Ararat?», fragte Anna, aber die Frau schüttelte den Kopf. Noch nicht. Doch schon ein paar Minuten später bemerkte Anna, dass ihre Nachbarin erneut nach draußen schaute, die Hände faltete und ein armenisches Gebet vor sich hin murmelte. «Ararat», sagte sie und deutete hinaus auf den schneebedeckten, vom Mondlicht angestrahlten Berg, der sich mitten in der Ebene erhob. Anna sah, dass die Frau Tränen in den Augen hatte, als sie dieses Wahrzeichen Armeniens und seines gequälten Volkes betrachtete. Nun bin ich also da, dachte Anna. Angekommen im Land der Opfer, wo die Leute selbst noch im Flugzeug trauern.
Am Flughafen teilte Anna sich ein Taxi mit dem EhepaarKazanjian, das ununterbrochen redete, erfüllt von der Euphorie heimgekehrter Exil-Armenier. Sie hatten ebenfalls ein Zimmer im Hotel Armenia am Leninplatz im Zentrum gebucht. Während die Kazanjians von Vetter Simpad und Onkel Garabed erzählten, schaute Anna aus dem Fenster. Die Stadt wirkte groß und verstaubt, die meisten Gebäude bestanden aus demselben, leicht rötlichen Stein. Und es gab ein wiederkehrendes architektonisches Leitmotiv: hohe Rundbögen mit den sanften Kurven der armenischen Schrift, deren Buchstaben allesamt wie Ms und Us aussahen.
Als sie das Hotel erreichten, war es bereits zehn. Die Kazanjians luden Anna ein, mit ihnen im Speisesaal zu Abend zu essen, doch sie lehnte höflich ab. Als sie schließlich mit ihrem Koffer auf dem Zimmer war, einem deprimierenden kleinen Kabuff mit Schimmelflecken an der Decke, war es zwanzig nach zehn. Anna beschloss, dass sie Aram am einfachsten finden würde, wenn sie direkt seine Eltern aufsuchte, um von ihnen zu erfahren, wo er sich aufhielt. Aber wie sollte sie das anstellen? Um diese Zeit noch ein Taxi an der Rezeption zu bestellen, wäre völliger Irrsinn gewesen. Jeder hoteleigene Fahrer war sicher auch ein heimlicher Informant. Sie schaute aus dem Fenster, sah das Licht und die Wasserspiele auf dem Leninplatz. Es waren Passanten unterwegs, also musste es dort auch Taxis geben.
Beweg dich, ermahnte sie sich. Verschwende nicht noch mehr Zeit. Sie steckte den Zettel mit der Adresse von Arams Eltern in die Handtasche und ging hinaus auf den Platz. Vor dem Hoteleingang lungerte ein Grüppchen zwielichtiger Männer herum, und einer von ihnen heftete sich an Annas Fersen, als sie nach draußen kam. Er gab sich nicht einmal Mühe, unauffällig zu wirken. Als er ihr etwas zurief, was vage nach «I love you, Baby» klang, war Anna erleichtert. Vermutlich war er nur ein Gigolo,der versuchte, reiche Frauen aus dem Westen abzuschleppen. Auch die halbwüchsigen Armenier, die auf dem Brunnenrand hockten und Zigaretten rauchten, pfiffen ihr hinterher. Glücklicherweise gelang es ihr ebenso rasch, die Aufmerksamkeit eines Taxifahrers zu erregen. Sie reichte ihm die Adresse, die Aram ihr in armenischer Schrift notiert hatte. Der Fahrer nickte und plauderte dann pausenlos auf Armenisch, während er den Wagen bergan steuerte. Er setzte Anna vor einer Wohnsiedlung in der Nähe des Funkturms ab, hoch über der Stadt. Sie bat ihn in stockendem Russisch zu warten, doch kaum hatte sie bezahlt, fuhr er auch schon davon.
Um kurz nach elf klopfte Anna an die Wohnungstür der Familie Antoyan im zweiten
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