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verzweifelter Miene reichte Anna der Frau die Adresse.
«
Paschalusta
!», flehte sie. Die Frau flüsterte ihrem Mann etwas zu, er dachte einen Augenblick nach und nickte dann. Arams Wohnung befand sich im Zentrum, ganz in der Nähe der Oper. Das Paar saß schweigend vorne im Wagen, und beide fragten sich offensichtlich, was eine Ausländerin mitten in der Nacht allein in einem Eriwaner Vorort zu suchen hatte. Einen Augenblick lang befürchtete Anna, dass sie sie bei der Polizei abliefern würden. Doch nach einer Viertelstunde hielten sie vor einem vierstöckigen Haus in einer schmalen Seitenstraße.
«
Vot adris
», sagte die Frau und deutete auf die Fenster im dritten Stock.
«
Spasiba, spasiba.
» Anna bedankte sich überschwänglich und gab dem Fahrer einen Fünfrubelschein.
Dann stieg sie aus und sah sich um. Die Straße war still und menschenleer, die ganze Stadt schlief bereits. Anna entdeckte kein Anzeichen dafür, dass man ihr folgte, doch eingedenk der Ratschläge von Stone hatte sie darauf ja auch bisher nicht geachtet. Sie schaute zu Arams Wohnung im dritten Stock hinauf. Die Fenster waren dunkel. Vielleicht schlief er ja. Oder er hatte eine Frau bei sich. Nun, das spielte keine Rolle. Sie musste ihm schließlich nur zwei Worte sagen: Geh nicht.
Anna sah noch einmal aufmerksam nach links und nach rechts, dann betrat sie das Wohnhaus. So leise wie möglich stieg sie die Treppe hinauf. Als sie im dritten Stock angekommen war, blieb sie einen Augenblick auf dem Treppenabsatz stehen, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann klopfte sie leicht an die Tür.
Niemand öffnete. Komm schon, du blöder Hund, mach endlichauf. Anna klopfte etwas lauter, immer noch bemüht, die Nachbarn nicht aufzuwecken, und dann noch ein wenig lauter. Sie hörte, wie im Stockwerk über ihr eine Tür geöffnet wurde, sah das Licht im Flur angehen, doch Aram öffnete immer noch nicht. Nach einem letzten, nachdrücklichen Klopfen setzte Anna sich auf die Treppe, um zu überlegen, was zu tun war.
Sie hatte sich schon fast dazu durchgerungen, einfach auf der Treppe sitzen zu bleiben und zu warten, bis Aram nach Hause kam, doch die Möglichkeit verflüchtigte sich, als die Wohnungstür gegenüber geöffnet wurde, eine alte Frau im verschlissenen Bademantel den Kopf nach draußen streckte und Anna anstarrte. Anna wäre trotzdem geblieben und hätte auf die alte Frau gepfiffen, doch ein paar Minuten später öffnete sich die Tür von neuem, dieselbe alte Frau schaute nach draußen und machte eine Handbewegung, als wollte sie Anna wegscheuchen. Sie vermutete, dass die Frau die Miliz zu Hilfe rufen würde, wenn sie blieb.
Hastig kritzelte sie eine Nachricht auf die Rückseite eines ihrer Travellerschecks, weil sie sonst kein leeres Blatt in der Handtasche fand. Sie schrieb auf Französisch, der Sprache, in der sie sich mit Aram unterhalten hatte, und versuchte, die Nachricht so zu formulieren, dass Aram sie verstand, sie ihn aber trotzdem nicht belasten würde, wenn jemand anders sie vor ihm entdeckte. «Hallo, Liebster, ich bin für ein paar Tage in der Stadt. Die Person, die Du morgen treffen wolltest, hat leider eine Erkältung bekommen. Ich wohne im Hotel Armenia. Und ich habe Sehnsucht nach Dir.» Den letzten Satz hatte sie eigentlich nur zur Tarnung hinzugefügt, doch beim Schreiben merkte sie, dass es stimmte. Sie hatte tatsächlich Sehnsucht nach ihm. Sie faltete den Scheck zusammen und schob ihn unter der Tür durch.
Inzwischen war es fast ein Uhr. Im Hotel warteten die Betreuerinnen,die das Kommen und Gehen der Gäste überwachten, wahrscheinlich schon ungeduldig auf sie. Wenn sie nicht bald zurückkehrte, würden sie Alarm schlagen. Anna blieb noch ein paar Minuten auf der anderen Straßenseite stehen, in der Hoffnung, dass Aram doch noch nach Hause kommen würde, dann gab sie auf. Wo steckte er bloß? Wahrscheinlich im Bett mit irgendeiner dunkelhaarigen, armenischen Schönheit. Oder – und das, entschied Anna, war viel wahrscheinlicher – er saß mit Freunden zusammen und plante die Übergabe am nächsten Tag.
Anna ging zurück zur Hauptstraße und hatte das Gefühl, von allen misstrauisch gemustert zu werden. Glücklicherweise kam schon nach wenigen Minuten ein Taxi vorbei, und sie war um halb zwei wieder im Hotel. Der Nachtportier zwinkerte ihr anzüglich zu. Sie stellte ihren Wecker auf halb sechs, lag dann aber noch fast eine Stunde wach und entwarf mühselig ihren weiteren
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