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Schlachtplan.
44 Am 10. November erhob sich Anna beim ersten Morgengrauen. Sie duschte, zog sich an und stand um Viertel nach sechs unten in der Hotelhalle. Zum Glück war der Tagesportier bereits dort, und anders als die unerschütterlichen Slawen, mit denen sie sich an den Intourist-Schaltern in Moskau herumgeschlagen hatte, wirkte er freundlich und fast ein wenig schlitzohrig. Es lebe Armenien, dachte Anna.
«Guten Morgen», sagte sie.
«Guten Morgen», erwiderte der Portier. «Was wünschen Sie?»
«Ich würde heute gern ein paar Sehenswürdigkeiten anschauen.»
«Intourist», sagte er und deutete den Flur entlang. «Das Büro öffnet um halb zehn.»
«Ich weiß, aber ich möchte etwas ganz Bestimmtes», sagte Anna. «Nicht die übliche Intourist-Rundfahrt.»
«Etwas Bestimmtes?», wiederholte der Portier mit hochgezogenen Brauen.
«Ja. Ich möchte das alte Kloster in Chor Virap besichtigen, wo Gregor der Erleuchter gefangen gehalten wurde.»
«Kein guter Ausflug. Das ist verboten. Chor Virap liegt an der Grenze. Sperrgebiet.»
«Ich weiß», säuselte Anna. «Aber meine armenischen Freunde haben mir gesagt, ich könnte sicher eine Sonderfahrt buchen. Ich zahle mit Dollars, wissen Sie?»
«Dollars?» Der Portier sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand sie gehört hatte. Anna hielt das für ein gutes Zeichen. Sie hatte ihn bereits zum Mitverschwörer gemacht.
«Ja», bekräftigte sie. «Wenn Ihnen das recht ist. Wissen Sie vielleicht jemanden, der mir helfen könnte, eine solche Fahrt zu organisieren?»
«Wir haben einen Wagen», sagte der Portier. «Mein Bruder – einen sehr schönen. Ich kann ihn anrufen, wenn es wirklich eine besonders wichtige Reise ist.» Er betonte die letzten Worte, als könnten sie allein ihm zwanzig Dollar zusätzlich sichern.
«Ihr Bruder könnte mich also in seinem Wagen hinfahren? Das wäre ganz wunderbar. Ein Freund von mir würde auch gern mitkommen. Vielleicht könnten wir auf dem Weg kurz anhalten und ihn abholen?»
«Warum nicht?»
«Es gäbe da noch etwas. Ich würde zu gern auch die kleinen Dörfer rund um den Ararat sehen. Eins davon soll besonders hübsch sein. Es heißt Kiarki.»
«Warum nicht?», sagte der Portier noch einmal. Dann fügte er leiser hinzu: «Aber erzählen Sie niemandem, bitte. Das ist ein Geschäft zwischen uns.»
«Aber nein», sagte Anna. «Ich erzähle keiner Menschenseele davon.»
«Wann wollen Sie los?» «Jetzt gleich», sagte sie.
«Jetzt?» Er warf einen Blick auf die Uhr.
«Ja, bitte. Ich möchte die Morgensonne über dem Ararat sehen.»
Der Portier zuckte die Achseln, griff zum Telefon und rief seinen Bruder an. Anna verstand von dem Telefonat nur ein einziges Wort: Dollars. Eine halbe Stunde später hielt ein leuchtend roter Lada Zhiguli vor dem Hotel. Samvel, der Bruder des Portiers, war ein stämmiger Mann mit gewaltigem Schnurrbart. Er sprach leidlich Englisch und erzählte, er arbeite in der Cognac-Fabrik. Ein echtes Schlitzohr, dachte Anna.
Sie wollte sich erst auf den Rücksitz setzen, doch dann wurde ihr klar, dass das zu auffällig sein würde, und so setzte sie sich auf den Beifahrersitz neben Samvel und gab ihm Arams Adresse. Sie wollte dort halten und nachsehen, ob er doch noch nach Hause gekommen war. Falls nicht, würde sie selbst nach Kiarki fahren und versuchen, ihn dort abzufangen. Sie hoffte inständig, dass die Fahrt nach Süden sich als unnötig erweisen und sie Aram zu Hause vorfinden würde, noch ganz verschlafen vom Saufen und Pläneschmieden mit seinen Freunden bis in die frühen Morgenstunden. Dann konnte sie den Rest des Tages mit ihm verbringen, womöglich sogar im Bett.
Bitte, Aram, sei da, flehte sie im Stillen, als der Zhiguli in die Straße einbog. Bitte sei da. Sie stieg aus und eilte die drei Stockwerke bis zu Arams Wohnung hinauf. Diesmal klopfte sie mitaller Kraft an die Tür, ohne sich darum zu kümmern, wer sie hörte. Doch niemand öffnete. Anna kauerte sich auf den Boden, spähte unter der Tür hindurch und sah den zusammengefalteten Travellerscheck mit ihrer Nachricht noch im Flur liegen. Wahrscheinlich hatte Aram die Nacht vor der Übergabe aus Sicherheitsgründen anderswo verbracht. Anna atmete tief durch und versuchte, sich für das zu wappnen, was ihr nun bevorstand. Dann kehrte sie zum Wagen zurück und setzte sich wieder auf den Beifahrersitz.
«Mein Freund ist nicht da», sagte sie zu Samvel. «Wahrscheinlich ist er schon vorgefahren. Brechen wir einfach nach
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