Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Netzwerk

Das Netzwerk

Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
Vom Netzwerk:
Süden auf. Es gibt da ein hübsches kleines Dorf namens Kiarki, das ich mir gern anschauen würde, und anschließend möchte ich nach Chor Virap.»
    «Okeydokey», sagte der Fahrer. Er benutzte häufig solche Ausdrücke, die er irgendwo aufgeschnappt hatte.
    Inzwischen war es Viertel nach sieben. Sie verließen die Stadt Richtung Süden und fuhren von den Hügeln von Eriwan hinunter in die Ebene am Fuß des Ararat. Die Sonne schien hell und wärmte die morgendliche Luft. Samvel fuhr zügig, vorbei an niedrigen Vororthäuschen und Kolchosen mit zahllosen Reihen von Rebstöcken. Es war eine akkurate kleine Welt: Die Rebstöcke waren ordentlich beschnitten, die Häuser sauber und gepflegt, mit hübschen metallenen Regenrinnen, auf denen kleine Tiere und andere Figürchen thronten.
    Samvel plauderte ununterbrochen in einem Mischmasch aus verschiedenen Sprachen. Er schien eine Art armenischer Sancho Pansa zu sein, ein stets gutgelaunter Vagabund. Als sie einen Milizposten passierten, zwinkerte er Anna zu und sagte: «Wir haben nicht Erlaubnis. Wenn uns jemand aufhält, Sie sind meine armenische Cousine aus Amerika. ‹O bitte›, sagen Sie. ‹Ichbin lange Reise aus Fresno gekommen, nur um zu sehen Chor Virap.› Sie geben mir Dollars, ich gebe weiter. Null Problemo.»
    «Null Problemo», echote Anna und gab ihm einen Zehndollarschein. Er machte die universelle Kopfbewegung, die in allen Sprachen «Mehr» bedeutet, und sie reichte ihm noch einen weiteren Zehndollarschein. Nachdem das geklärt war, entspannte sie sich ein wenig und genoss es, an diesem sonnigen Tag über die Landstraße zu brausen, mit einem Mann neben sich, der alles im Griff hatte.
    Sie fuhren eine vierspurige Schnellstraße entlang und hielten direkt auf den gewaltigen, schneebedeckten Gipfel des Ararat zu. Samvel sah zu dem dräuenden Berg auf und geriet ins Schwärmen. «Dieser Berg ist wie Magnet für mich», erklärte er überschwänglich. «In Schatten von gewaltigem Berg ich fühle, ich bin unsterblich!» Der Ararat, dieser gewaltige Magnet, stand eigentlich jenseits der Grenze, in der Türkei, doch das schien keine Rolle zu spielen. Aus Samvel sprach der poetische Geist der armenischen Volksseele. Er offenbarte die Liebe dieses Volkes zur großen Geste, seinen fatalen Hang zur Romantik. Und Anna dachte: Wenn Aram ihn bloß hören könnte!
    Sie waren inzwischen fast am Fluss Aras angekommen, und wenige Kilometer vor ihnen kamen sowjetisch-türkische Grenzposten in Sicht. «Nicht aus Fenster schauen», mahnte Samvel. «Grenze ist Sperrgebiet.»
    Doch Anna konnte nicht widerstehen. Alle paar hundert Meter ragte ein hoher Turm vor ihnen auf, wie die Wachtürme einer Gefängnisanlage. Dann sah sie auch die Grenze selbst, die sich fast anderthalb Kilometer quer über die Ebene erstreckte. Sofort fiel ihr auf, dass sich alle Absperrungen auf der inländischen Seite befanden. Theoretisch hatte sie das natürlich gewusst, doch es war trotzdem erschreckend zu sehen, dass dieseAbsperrungen dazu dienten, die Sowjetbürger im Land zu halten, und nicht dazu, Fremde am Eindringen zu hindern. Und dann auch noch so viele Absperrungen. Die erste, ein Maschendrahtzaun, wurde alle paar Meter von massiven Betonpfählen unterbrochen, an denen Isolierungen und Leitungen für die Stromzufuhr angebracht waren. Dahinter folgte eine Absperrung aus verdrilltem Stacheldraht, dahinter ein weiterer Maschendrahtzaun und schließlich ein vollkommen glatt geharktes Gelände, auf dem man jeden Fußabdruck sofort erkannte, sowie eine asphaltierte Straße für die Fahrzeuge der Grenzschützer. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine weitere Absperrung aus Stacheldraht und dahinter ein letzter Zaun, gespickt mit dem ultimativen Bekenntnis der nationalen Niederlage: nach innen weisenden Stacheln.
    Die Grenze wirkte ganz und gar unüberwindlich, selbst für den gewieftesten Schmuggler, doch Anna rief sich ins Gedächtnis, dass Ascaris Männer ja nicht den Weg durch die türkische Ebene nahmen. Sie kamen über die unwegsamen Berge aus dem Iran, wo sich selbst Grenzschutzsoldaten verliefen.
    «Und jetzt wir erreichen berühmtes Chor Virap», sagte Samvel zu ihr. «Vielleicht wir halten erst dort an?»
    «Nein, machen wir das doch auf dem Rückweg», sagte Anna. «Ich möchte zuerst nach Kiarki, in das kleine Dorf an der Grenze.»
    «Aber das ist nicht Armenier-Dorf. Die Leute dort sind Türken. Was wollen Sie da? Nicht schön dort.»
    «Meine Freunde sagen, es sei sehr hübsch.

Weitere Kostenlose Bücher