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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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Ich möchte es mit gern anschauen.»
    Samvel fügte sich, wenn auch mit merklichem Widerwillen. Inzwischen war es schon nach halb neun. Anna schaute in jedes vorbeifahrende Auto, in der Hoffnung, Aram darinzu entdecken. Sie war wild entschlossen, vor ihm in das Dorf zu gelangen, doch mit jeder Minute wuchs die Angst, dass ihr Plan nicht aufgehen könnte. Samvel musterte sie von der Seite, während sie nervös mit den Fingern auf das Armaturenbrett des Zhiguli trommelte. Armenier schätzen es nicht, wenn man nervös ist. Das wirkt wie eine Beleidigung für ihre Volksseele, die am besten mit Gelächter und Tränen zurechtkommt und alles verabscheut, was dazwischenliegt.
    «Ich werde Ihnen Lied singen», verkündete er.
    «Ein armenisches Volkslied?»
    «Natürlich. Glauben Sie, ich singe Türkisch?» Anna musste lachen, und Samvel stimmte sein armenisches Lied an. Er sang mit einer volltönenden Bassstimme, deren Volumen jedem Opernhaus zur Ehre gereicht hätte und das kleine russische Auto ganz ausfüllte. Er sang mehrere Strophen voll ehrlichen, aber dennoch gekonnt inszenierten Gefühls.
    «Ein schönes Lied», sagte Anna. «Wovon handelt es?»
    «Ich singe vom Dorf meines Großvaters, Moush, im türkischen Teil von Armenien. Heute es gibt kein Moush mehr. Die Leute sind alle fort, alle tot. Aber wir singen unseren Söhnen das Lied, damit sie wissen, wie es war. Das Lied sagt:
    Steh auf, mein Sohn, lass uns nach Hause gehen. Dort trinken wir unser Wasser und unsere Milch.
    Ich stille deine Sehnsucht.
    Steh auf, mein Sohn, lass uns gehen nach Moush, ins Land unserer Väter.
    Selbst wenn es nur ein Traum ist: Lass uns dorthin zurückkehren.»
    Anna schloss die Augen. Die Straße zog unter ihnen dahin wie ein langes Band aus Asphalt und brachte sie immer näher an das Gebiet, wo die Grenzen der Türkei, des Iran, Armeniensund Aserbaidschans aufeinandertrafen. Eine Straße über den Gebeinen der Toten.
    «Singen Sie mir noch ein Lied», bat sie. «So kann ich meine eigenen Probleme vergessen.»
    «Na klar doch. Aber das ist sehr trauriges Lied.»
    «Das macht nichts. Ich mag traurige Lieder.»
    Diesmal klang Samvels Stimme noch dunkler und sonorer, fast wie die Basspfeifen einer Kirchenorgel. Er sang vier Strophen, dann brach er ab, von Gefühlen überwältigt. «Tut mir leid», sagte er. «Es ist schwierig für mich, dieses Lied zu singen.»
    «Können Sie es mir übersetzen?», fragte Anna. Je länger sie Samvel erlebte, desto mehr erschien er ihr wie der Inbegriff seines Landes: erdverbunden und zugleich sentimentalisch.
    «Ich hätte nicht singen dürfen dieses Lied. Die Wörter werden Sie traurig machen. Es ist Lied über den Tod. Es sagt:
    Wo immer du hingehst,
    Der Tod ist derselbe.
    Aber ich beneide den Mann,
    Der für sein Vaterland sterben darf.»
    «Was ist das für ein Lied?», fragte Anna. «Ich glaube, ich habe es schon einmal von einem Freund in Paris gehört.»
    «Es ist unsere Nationalhymne», sagte Samvel.
     
    Ein paar Kilometer weiter entdeckte Anna einen Wegweiser, der in kyrillischer Schrift auf Kiarki hinwies. Sie schaute sich um. Fern im Südosten sah sie die Berge an der Grenze zum Iran, wie zerklüftete Sägezähne, die die Morgensonne dunkelrot färbte, und direkt vor ihr befand sich die Grenze mit dem aserbaidschanischen Grenzposten Nakhichevan, einer recht heruntergekommenen Kreuzung mit einem Kreisverkehr, einem Militärstützpunkt und zwei baufälligen Kneipen zu beiden Seiten der Grenze.Anna hatte das Gefühl, sich an diesem versteckten Landstrich im Schatten der Türkei, des Iran und der Sowjetunion am abgelegensten Ort der Welt zu befinden.
    «Kiarki», bemerkte ihr Fahrer, für den Fall, dass Anna das Schild übersehen haben sollte.
    «Fahren Sie langsamer», bat sie ihn, als sie sich dem Dorf näherten. Sie hielt nach irgendetwas Auffälligem Ausschau. Die Häuser hier waren kleine, eingeschossige Bungalows, etwas heruntergekommener vielleicht als in den angrenzenden armenischen Dörfern, doch sonst ganz ähnlich. In vielen Vorgärten standen Rebstöcke und rankten sich an Metallrohren empor, die von der Straße bis zu den Dächern hinaufreichten. Ein paar Frauen saßen im Schatten der Weinreben und bereiteten das Mittagessen vor, und überall waren Kinder, Dutzende von Kindern, die auf den Straßen und in dem kleinen Park in der Nähe des Dorfzentrums spielten.
    «Alles dreckig hier», brummte Samvel, als sie sich dem Dorfplatz näherten. «Türken.»
    «Ist das hier die alte Straße

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