Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Netzwerk

Das Netzwerk

Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
Vom Netzwerk:
auf beide Wangen. Es war der Kuss eines früheren Liebhabers, zärtlich und distanziert zugleich. «Ich möchte dir jemanden vorstellen», sagte er und drehte sich zu George um. «Das ist mein Freund Henry. Er kennt keine Menschenseele hier in Istanbul.»
    «Hallo, Henry», sagte Sonja.
    «Hi», erwiderte George und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Vielleicht lag es ja an dem Kontrast zu den ordinären Frauen, die sie an diesem Abend schon gesehen hatten, aber Taylor hatte den Eindruck, dass George sich auf den ersten Blick in Sonja verliebt hatte. «Setzen Sie sich doch zu uns», sagte er. Es klang fast wie ein Heiratsantrag.
    «Ich muss noch ein Lied singen», sagte sie. «Dann komme ich zu euch.»
    Omar führte sie zu einer Nische in der hintersten Ecke des Raumes, die von den anderen Tischen aus nicht einsehbar war. Durch die dichten Schwaden von Zigarettenrauch konnte man zunächst kaum erkennen, was für einen großartigen Ausblick auf die nächtliche Stadt die Fenster der Bar boten.
    «Wodka?», fragte Omar und brachte ihnen, nachdem Taylorgenickt hatte, eine ganze Flasche und drei Gläser. «Ich komme später zu euch», sagte er und verschwand.
    «Woher kennst du ihn so gut?», fragte George.
    «Er hat nach dem Krieg für uns gearbeitet, und obwohl ein paar Kumpel von ihm dabei draufgegangen sind, scheint er uns immer noch zu mögen.» Sie leerten die Gläser in einem Zug, und Taylor goss nach.
    «Irgendwie bauen wir ständig Mist», bemerkte George.
    «Natürlich», erwiderte Taylor. «Das ist schließlich unsere Mission: die Latte der Inkompetenz für die anderen Geheimdienste möglichst hoch zu hängen.» Den scharfen Geschmack des kühlen Wodkas auf den Lippen, dachten sie beide eine Zeit lang schweigend über die Wahrheit dieser Worte nach.
    «Wir arbeiten gerade dran, dieses Problem zu lösen, Al.»
    «Welches Problem denn?»
    «Dass wir die Leute, die für uns arbeiten, im Regen stehen lassen müssen. Dass sie umgebracht werden.»
    «Tatsächlich? Und wie?»
    «Mit Ratten.»
    «Bist du jetzt völlig übergeschnappt?»
    «Keineswegs.» George beugte sich zu Taylor hinüber. «Wir haben ein neues Projekt, bei dem wir Ratten winzige Empfänger implantieren. Dann trainieren wir sie, von uns vorgegebenen, oft mehrere Kilometer langen Routen zu folgen, indem wir ihnen jedes Mal, wenn sie falsch abbiegen, per Funk einen Stromstoß versetzen. Irgendwann haben sie es dann kapiert.»
    «Und dann?»
    «Wenn sie an ihrem Bestimmungsort angekommen sind, töten wir sie mit einem noch stärkeren Stromstoß und aktivieren dadurch gleichzeitig ein Mikro mit Sender, das wir ihnen auf den Rücken gebunden haben. Fertig ist der Abhörposten. Die Ideeist, die Tiere an einer bestimmten Stelle in den Abwässerkanälen von Moskau auszusetzen und unterirdisch bis in den Kreml laufen zu lassen, und zwar direkt in den Raum, neben dem das Politbüro seine Sitzungen abhält. Die reden sich dann die Köpfe heiß, und unsere tote Ratte zeichnet hinter der dünnen Wand alles auf. Ist doch genial, oder? Ganz so, als hätte man dort einen Agenten eingeschleust.»
    «Einen mit Nagezähnen und langem, dünnem Schwanz.»
    «Im Ernst, Al, genau so was braucht ihr Jungs da draußen. Wegen einer toten Ratte regt sich doch kein Mensch groß auf.»
    «Und wie machen sich die Tierchen?»
    «Es gibt noch ein paar Probleme, weil manche sich immer noch verlaufen, egal, wie gut wir sie trainieren. Vielleicht haben sie ja Lampenfieber oder so was. Andere wollen partout nicht an dem Stromstoß sterben, und wieder andere versuchen, das Mikro und den Sender abzustreifen oder wegzubeißen. Aber trotzdem hat die Sache großes Potenzial, findest du nicht?»
    «Durchaus», antwortete Taylor. «Macht nur weiter so. Irgendwann kann dann eine eurer Ratten meinen Job übernehmen.» Er goss sich noch einen Wodka ein. Die Band stimmte ein Lied an, und Taylor fing an, sich richtig wohlzufühlen. Eigentlich ging es doch nur darum: mit einem Freund in einer exotischen Bar einen Schnaps zu trinken, während eine schöne Frau Liebeslieder von der Krim sang.
    «Warum stehst du eigentlich so auf Bordelle und verruchte Spelunken?», fragte George. «Irgendwie passt das gar nicht zu dir.»
    Taylor dachte einen Augenblick nach. Das war eine gute Frage.
    «Weil ich ein Neggo bin», antwortete er schließlich.
    «Ein Neggo?»
    «Das ist eine lange Geschichte. Irgendwann erzähle ich sie dir, aber jetzt hören wir uns lieber das Lied an.»
     
    Eine treffendere

Weitere Kostenlose Bücher