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des Protokolls füllte, dann brach einer der Ukrainer im Suff einen Streit mit einem anderen Delegationsmitglied vom Zaun, und der Abend fand ein jähes Ende. Die zweite Einladung der Woche war ein Abendessen für den jugoslawischen Generalkonsul nebst Gemahlin. Dazu hatte Kunajew noch weitere, in seinen Augen illustre Gäste geladen: Diplomaten aus der DDR, Rumänien und dem Südjemen. Während des Essens tat er sein Bestes, um dem jemenitischen Konsul irgendwelche Informationen zu entlocken, aber es stellte sich heraus, dass der arme Kerl so gut wie keine Ahnung hatte, was bei ihm zu Hause in Aden vor sich ging. Je mehr Abhörprotokolle Taylor las, desto mehr Mitleid bekam er mit Kunajew, dessen Arbeit noch deutlich langweiliger zu sein schien als seine eigene.
Nach zwei Wochen musste Taylor sich widerwillig eingestehen, dass die Abhöraktion bei Kunajew wohl kaum zu einemWendepunkt im Kalten Krieg führen würde. Obwohl er es der Zentrale gegenüber anders dargestellt hatte, kam es ihm selbst immer unwahrscheinlicher vor, dass Kunajew überhaupt für den sowjetischen Geheimdienst arbeitete.
Den Türken war das offenbar egal. Als Taylor Serif Osman feierlich eine Zusammenstellung des in zwei Wochen gewonnenen Materials überreichte, zeigte sich dieser höchst zufrieden damit. Er wies auf die historische Freundschaft zwischen dem MIT und der CIA hin und versprach, die Protokolle genauestens zu prüfen. Auch in der Zentrale rümpfte man über die gewonnenen Erkenntnisse nicht die Nase. Ganz im Gegenteil. Timmons war überglücklich damit, genauso wie seine Vorgesetzten und deren Vorgesetzte ihrerseits. Für sie waren die Protokolle genau die «Resultate», deren Gewinnung ihnen so am Herzen lag. Dabei war es völlig unerheblich, dass die Resultate nur aus sinnlosem Geschwätz bestanden.
Die Zentrale verpasste Kunajew das Kryptonym «CKJACK» und wollte alles über ihn erfahren. War er ein Spieler? Wie viele Glas Wasser trank er am Tag? Wie viele Kinder hatte er, und wo studierten sie? Hatte er irgendwelche seltsamen sexuellen Vorlieben? Jede dieser Fragen generierte einen neuerlichen Wust an Papier, der wiederum der Aktion größere Wichtigkeit verlieh. Als Timmons schließlich die Auswertung der Protokolle an einen seiner fließend Russisch sprechenden Agenten in Ankara übergab, war Taylor darüber alles andere als unglücklich. Die Sache war ihm nämlich zunehmend peinlich geworden.
Nur eines hatte Taylor an der Kunajew-Geschichte noch halbwegs bemerkenswert gefunden, und das war das offenkundige Interesse der Frau des Generalkonsuls am Islam. Stundenlang hörte sie sich Tonbänder mit Predigten in einem Taylor kaumverständlichen türkischen Dialekt an und sprach mit ihrem Mann häufig über religiöse Themen. Kunajew selbst, der immerhin ein halber Kasache war, schien sich nicht weiter für den Islam zu interessieren, was das Motiv, dass seine baltische Frau ihn damit beeindrucken wollte, eigentlich wegfallen ließ. Es musste also etwas anderes dahinterstecken. Eines Tages band sich Frau Kunajewa dann tatsächlich ein Kopftuch um und suchte einen örtlichen Mullah auf, dem man freundschaftliche Beziehungen zum iranischen Botschafter nachsagte, und ein andermal besuchte sie einen Vortrag der Islamischen Literaturgesellschaft im Yildiz-Palast, bei dem es um die Riten bestimmter Sufi-Orden ging, die auch als Derwische bekannt waren.
Bei der Lektüre dieses Berichts hatte Taylor alle Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Der zuständige Agent, der ebenfalls in dem Vortrag gewesen war, listete minutiös auf, dass es wirbelnde Derwische, heulende Derwische, bellende Derwische, weinende Derwische und stöhnende Derwische gebe. Ein Derwischorden verlangte von seinen Anhängern, dass sie den Namen Allahs 78 585 Mal wiederholten, um Erleuchtung zu erlangen. Wahlweise konnten sie auch das Wort
wahid
, was so viel wie die «Einheit Gottes» bedeutete, 93 420 Mal wiederholen, oder aber das Wort
azis
, was übersetzt «die Kostbarkeit Gottes» hieß, 74 644 Mal. Von diesen exzentrischen Sitten einmal abgesehen, erwähnte der Vortragende im Yildiz-Palast auch noch ein weiteres interessantes Merkmal der Sufi-Bruderschaften. Sie bildeten, so sagte er, eine unsichtbare Kette, die sich von der Türkei bis ins Innere Zentralasiens erstreckte, weshalb die Sowjets seit den Zwanzigerjahren vergeblich versuchten, sie auszumerzen. Während der langen Diskussion nach dem Vortrag, so vermerkte der Bericht
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