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fragte Mrs. Sanchez.
«Wie bitte?», fragte Anna.
«Ist das ein dauerhafter Ortswechsel oder nur ein temporärer?»
«Keine Ahnung», erwiderte Anna. «Das hier ist überhaupt meine allererste Stelle.»
Mrs. Sanchez verdrehte die Augen, um zu signalisieren, dass ihr das durchaus auch selbst aufgefallen war. Sie zeigte Anna ihren Arbeitsplatz, gab ihr einen Schlüssel für die Damentoilette und ein paar Vordrucke für Telegramme und Mitteilungen, zeigte ihr, wo Büroklammern und Bleistifte zu finden waren und tat auch sonst ihr Möglichstes, damit Anna sich vorkam wie die letzte Idiotin. Offenbar fühlte Mrs. Sanchez sich nicht ganz wohl mit der Aussicht, dass eine weitere Frau, und dazu noch eine Agentin, in ihr Reich eindrang. Doch schließlich tauchten ein paar Kollegen auf, die Anna etwas freundlicher willkommen hießen.
Den Vorsitz bei Halcyon Ltd. führte ein fröhlicher, leicht zerstreuter Mittfünfziger namens Dennis Rigg. Er arbeitete seit mehr als zwanzig Jahren als NOC und machte den Eindruck, als hätten das jahrelange Heimlichtun und Auf-der-Hut-sein-Müssen seine Persönlichkeit aufgezehrt und nur noch eine ständig gutgelaunte, etwas überdrehte Hülle zurückgelassen.Die beiden anderen Teilhaber – ebenfalls CI A-Leute – waren Anfang dreißig und gaben sich große Mühe, wie Eliteabsolventen zu wirken, obwohl sie nur staatliche Colleges im Mittleren Westen besucht hatten. Auch Mrs. Sanchez und die anderen Sekretärinnen arbeiteten für die CIA. Es gab nur einen Menschen vor Ort, der kein Geheimdienstmitarbeiter war, einen Admiral im Ruhestand namens Hawes oder Dawes – Anna hatte den Namen nicht ganz verstanden, weil er so nuschelte –, der offiziell als Generaldirektor der Firma fungierte und immer dann zum Einsatz kam, wenn es darum ging, Gäste oder potenzielle Kunden zu beeindrucken. Der Admiral war bekannt für seine ausgedehnten Mittagspausen, die mitunter mehrere Tage dauern konnten.
Halcyon Ltd. war die ideale Tarnung und beherbergte ein ganzes Grüppchen inoffiziell und verdeckt arbeitender Agenten. Hier hatte alles seine Ordnung. Die Halcyon-Mitarbeiter unterstanden, wie die anderen CI A-Leute in der Botschaft, dem Londoner Bürochef, trafen sich mit ihren Kontakten aber nur in sicheren Häusern. Und wie alle NOCs hatten sie den eingeschleusten Botschaftsmitarbeitern gegenüber einige Vorteile. Sie konnten externe Agenten kontaktieren und aufbauen, ohne gleich das offizielle Interesse der amerikanischen Regierung bekunden zu müssen. Sie hatten Zugang zu Menschen und Orten, die den Botschaftsmitarbeitern verwehrt blieben. Sie konnten sich unauffällig mit ihren Informanten treffen und erregten ganz allgemein sehr viel weniger Aufmerksamkeit. Zumindest, solange sie nicht aufflogen.
Firmen wie Halcyon waren das Ergebnis des endlosen Ringens der CIA um gute Tarnung. Alle Welt wusste schließlich, dass eine Tarnung als Botschaftsmitarbeiter – ob nun in politischer oder geschäftlicher Funktion – im Grunde keine war. Vielzu durchschaubar. Wenn die Russen die Agenten nicht schon selbst anhand der Diplomatenliste identifiziert hatten, kamen ihnen die Diplomatengattinnen zu Hilfe, die sich bei Cocktailpartys wortreich darüber beklagten, was für Privilegien die CI A-Mitarbeiter genossen: größere Wohnungen, ein höheres Bewirtungsbudget, häufigere Reisen. Das Außenministerium hatte versucht, diesen Missstand durch die Entwicklung sogenannter «integrierter Tarnungen» zu beheben, bei denen CI A-Mitarbeiter , die hinter den Eisernen Vorhang geschickt werden sollten, schon ihre Ausbildung zusammen mit künftigen Diplomaten absolvierten, damit man sie später nicht mehr von ihnen unterscheiden konnte. Doch kaum waren die Betreffenden dann in einer ausländischen Botschaft, kam es zur Cliquenbildung, und sie verrieten sich selbst.
Die Lösung war die verstärkte Arbeit mit NOCs. So lautete zumindest die Empfehlung der diversen Arbeitsgruppen, die sich seit den Fünfzigerjahren mit der Tarnungsproblematik befassten. Das Argument für eine Erhöhung der NO C-Quote war stets dasselbe: Sie arbeiteten wirklich geheim. Und auch das Gegenargument blieb immer gleich: Sie machten furchtbar viel Arbeit. Halcyon war ein hübsches Beispiel für beide Seiten der Medaille. Da die Firma offiziell auf Kapitalanlagen in Entwicklungsländern, vor allem im Nahen Osten, spezialisiert war, konnten ihre «Mitarbeiter» ungehindert reisen und sich mit den unterschiedlichsten Leuten
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