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treffen, ohne Verdacht zu erregen. Aus Sicht des Londoner Bürochefs hatte das jedoch den Nachteil, dass der Einsatz von NOCs mindestens so kompliziert war wie der Einsatz externer Agenten.
NOCs galten gemeinhin als neurotisch, was bei dem Leben, das sie führten, auch nicht weiter verwunderlich war. Nach jahrelanger Tätigkeit für eine angebliche Werbeagentur oderFluggesellschaft waren sie meist nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen, und manchmal gewann die Tarnexistenz so sehr die Oberhand, dass sie ihren dicken Wagen oder die Reisen nach Nizza für Realität hielten und ihre Tätigkeit im Staatsdienst darüber ganz vergaßen. Ein solches Leben war schon für Männer schwer auszuhalten, und deshalb ging man jahrelang stillschweigend davon aus, dass es für Frauen ganz unmöglich war. Sie würden zu sehr vereinsamen, sich isoliert fühlen, sonderbar werden, und dann liefen sie Gefahr, sich in ihre Agenten oder ihre Vorgesetzten zu verlieben oder in jeden Dahergelaufenen, mit dem sie irgendwo ein paar Worte wechselten. Inzwischen hatte man langsam begonnen, diese alten Vorurteile abzubauen. Und trotzdem hätten die Entscheidungsträger Anna Barnes in jenem Jahr sicher nicht so bereitwillig eingesetzt, wenn nicht ringsum die Welt so offensichtlich aus den Fugen geraten wäre.
Aber das eigentliche Problem des Daseins als NOC – zumindest war das Annas Eindruck nach ihrer ersten Arbeitswoche – lag darin, dass es einfach nicht genug zu tun gab. Die Halcyon-Belegschaft durfte nicht selbständig arbeiten, sich keine eigenen Ziele setzen und keine eigenen Regeln aufstellen; alles musste erst mit dem Stützpunkt in London und mit der Zentrale in Langley abgeklärt werden, deren Anweisungen dann wieder zunächst an den Londoner Stützpunkt gingen und dann erst an die Mitarbeiter von Halcyon – mit dem Ergebnis, dass die Papierberge wuchsen und ständig Verzögerungen entstanden.
Anfangs schob Anna es noch auf ihren Status als Anfängerin, dass sie so wenig zu tun hatte. Doch nach und nach fiel ihr auf, dass es den erfahreneren Kollegen auch nicht anders ging. Den Vormittag verbrachten sie mit ausführlicher Zeitungslektüre, und um Viertel vor eins brachen sie geschlossen auf, um beimMittagessen in den teuren Restaurants von Mayfair auf «Talentsuche» zu gehen. Wenn sie dann gegen drei, meist mit recht gesunder Gesichtsfarbe, zurückkehrten, widmeten sie sich ein paar Stunden der Büroarbeit. Manchmal erledigten sie auch das eine oder andere Bankgeschäft, um ihre Tarnung zu erhalten. Doch der Eindruck blieb, dass keiner von ihnen richtig ausgelastet war. Anna musste daran denken, was Edward Stone ihr über Geheimdienstarbeit und Langeweile erzählt hatte. Womöglich stimmte das ja tatsächlich.
In der ersten Woche war sie vollauf damit beschäftigt, ihre Wohnung im neuen In-Viertel Notting Hill zu beziehen. («Klar», kommentierte Dennis. «Wo solltest du auch sonst wohnen?») Außerdem machte sie sich wieder mit London vertraut, wo sie früher häufig gewesen war, meistens mit ihrem Vater. In der Mittagspause, die bei Halcyon mindestens zwei Stunden dauerte, klapperte sie seine alten Lieblingsorte ab. Sie schaute bei dem Hemdenschneider in der Jermyn Street vorbei, zu dem er gern gegangen war, besuchte seinen Lieblingshutmacher in der St. James’s Street und seinen Lieblingsschuhladen an der King Street. Nach drei Tagen Wallfahrten wurde ihr das aber zu langweilig – was gab es in einem Herrenschuhladen schon groß zu sehen? –, und sie verlegte sich stattdessen auf Einkaufsbummel in der New Bond Street.
Während dieser ersten Woche äußerte sie ihrem gutgelaunten Chef gegenüber ein paar Mal die Befürchtung, nicht genug erledigt zu bekommen. Dennis begegnete ihren Bedenken mit den Plattitüden, die sich während seines langen Lebens als Spion angesammelt hatten. «Bleib wach!», sagte er. «Halt einfach immer die Augen offen!» Und als er gegen Ende der Woche merkte, dass seine neue Mitarbeiterin tatsächlich nicht recht glücklich wirkte, schickte er sie auf ein Seminar über Entwicklungsarbeitin Saudi-Arabien, in der Hoffnung, dass sie sich dann besser fühlte.
Dabei hätte Anna sich eigentlich gar keine Sorgen zu machen brauchen, denn ohne ihr Wissen hatten die bürokratischen Mühlen längst zu mahlen begonnen. Zu Beginn ihrer zweiten Arbeitswoche erhielt sie einen Anruf von einem Botschaftsmitarbeiter namens Howard Hambly. Offiziell fungierte er als Zweiter Sekretär in der
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