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Marcus.»
«Verstehe. Mögen Sie Männer?»
«Ja, selbstverständlich.»
«Was meinen Sie mit ‹selbstverständlich›?»
«Damit meine ich, dass ich Männer eben mag. Ich rede gern mit ihnen. Ich gehe gern mit ihnen ins Kino. Ich schlafe gern mit ihnen. Ich mag Männer. Kapiert?»
«Mögen Feministinnen Männer?»
«Großer Gott! Woher soll ich das wissen? Manche ja, manche nein. Das hängt wohl ganz von der persönlichen Erfahrung ab.»
«Verstehe. Und wie ist Ihre persönliche Erfahrung?»
«Im Großen und Ganzen gut. Mitunter nicht so toll. Aber ich bin auch vorsichtig.»
«Inwiefern?»
«Indem ich versuche, mich nicht auf den Falschen einzulassen. Indem ich aufpasse, dass die Sache nicht außer Kontrolle gerät.»
«Was meinen Sie mit ‹außer Kontrolle geraten›?»
«Sie wissen schon. Dass es beängstigend wird. Dass man sich verletzlich macht. Sich fühlt wie auf einer Achterbahn ohne Bremsen.»
«So, so.» Doktor Marcus nickte ernst.
So ging es Stunde um Stunde, ein mäanderndes analytisches Zwiegespräch. Anfangs war Anna fasziniert von Doktor Marcus und versuchte, ihm zu gefallen, indem sie die richtigen Antworten gab, doch dann fand sie seine Fragen zunehmend indiskret und langweilig und kam zu dem Schluss, dass er ihr unsympathisch war. Am dritten Tag war sie schließlich ganz entspannt, ließ sich von der Welle ihrer eigenen Enthüllungen davontragen und sagte alles, was ihr gerade einfiel, ohne das geringste Gefühl von Peinlichkeit. Worauf Doktor Marcus umgehend das Interesse an dieser Übung verlor und sich in den folgenden Sitzungen mehr auf berufsbezogene Aspekte konzentrierte.
Vor ihrer Begegnung mit Doktor Marcus war Anna nie auf denGedanken gekommen, was für eine große Rolle Psychologie bei Geheimdienstoperationen spielte. Doch je mehr er ihr erzählte, desto klarer wurde ihr, dass die moderne Geheimdienstarbeit sich vor allem darum drehte, Schwächen und Veranlagungen des Gegenübers zu erkennen, Charaktereigenschaften, die den einen zum perfekten Rekrutierungskandidaten machten und den anderen zum absoluten Fehlgriff. Man musste sich all der positiven und negativen Mechanismen bedienen, die es einem erlaubten, das Verhalten eines anderen Menschen zu steuern.
«Die Sowjets bringen ihren Mitarbeitern bei, dass es vier Gründe gibt, sich vom Geheimdienst anwerben zu lassen», hatte Doktor Marcus Anna erklärt. «Sie haben sogar eine Abkürzung dafür: GISE. Das steht für Geld, Ideologie, Sex und Ego. Aber die Sowjets, Anna, liegen falsch.»
«Wieso?», wollte sie wissen. Das klang doch sehr überzeugend: Geld, Ideologie, Sex und Ego schienen als Beweggründe so zuverlässig wie die vier Himmelsrichtungen auf einem Kompass.
«Weil nur eine Motivation wirklich zählt, und das ist das Ego. Nur das allein kann jemanden dazu bringen, überzulaufen, Spion zu werden und sein Land zu verraten. Meistens erzählt der Betreffende sich selbst natürlich etwas ganz anderes. Er sieht es vielleicht als Schritt auf dem Weg zu einem höheren Ziel, träumt von dem vielen Geld, das man ihm versprochen hat, oder davon, bis ans Ende seiner Tage in Kalifornien junge Mädchen flachzulegen. Das sind aber alles nur Ausdrucksformen, die das Bewusstsein für etwas Tieferliegendes findet. Ideologische Gründe sind nun mal kein verborgenes Motiv. Mancher Agent mag sein Überlaufen damit erklären, aber sein wahres Motiv ist meist sehr viel elementarer. Das betrifft beispielsweise seine Art, mit Autorität umzugehen.»
Anna konnte sich an diese Sitzung fast Wort für Wort erinnern. Und während sie in ihrer kleinen Wohnung in Notting Hill im Bett lag und überlegte, was sie am nächsten Tag tun würde, rief sie sich, wie ein Footballspieler, der am Abend vor einem wichtigen Spiel noch einmal sämtliche Spielzüge im Kopf durchgeht, die Ratschläge in Erinnerung, die Doktor Marcus ihr mit auf den Weg gegeben hatte.
«Verrat folgt bestimmten Zyklen», hatte er ihr erklärt. «Ich habe die Geschichten Dutzender Spione und Überläufer analysiert und festgestellt, dass Männer am ehesten zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig zu Verrätern werden, zu einem Zeitpunkt also, wenn sie etwa in der Halbzeit ihres Berufs und ihrer Ehe angekommen sind und Bilanz ziehen. Das ist eine Art Scheideweg.»
«Dann ist Verrat also die ultimative Midlife-Crisis», scherzte Anna. Doch Doktor Marcus lachte nicht darüber. Sie hatte es nämlich ganz genau erfasst: Verrat war tatsächlich die ultimative
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