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mit quietschenden Reifen auf die Mesrutiyet-Straße. Allerdings war sein Stilbewusstsein offenbar ausgeprägter als sein Orientierungssinn, und sie waren noch kaum über die Bosporus-Brücke, als er sich bereits hoffnungslos verfahren hatte. «Nach dem Weg fragen hat keinen Sinn», erkläre er Anna. «Türken können nämlich einfach nicht zugeben, dass sie sich auch nicht auskennen, und denken sich dann eine Wegbeschreibung aus.»
So kurvten sie völlig planlos durch die Seitenstraßen von Beylerbeyi, Cengelköy und Vaniköy. In der Nähe von Anadolu Hisari am Ufer des Bosporus fand Taylor sich schließlich wieder zurecht und entdeckte ein Restaurant, das er kannte. Sie hieltenan, aßen etwas zu Mittag und bestellten eine Flasche Wein dazu, und Anna spürte, wie ihre Anspannung nachließ. Sie erzählte Taylor Anekdoten über den widerwärtigen Ali Ascari, berichtete von den Wechselfällen des Daseins als NOC in London, und beim letzten Glas Wein erzählte sie ihm sogar, wie sie sich vor etwas über einem Jahr entschlossen hatte, dem exklusivsten Herrenclub der Welt beizutreten. Taylor trank lächelnd seinen Wein und schwieg.
Er hatte beschlossen, mit ihr nach Polonezköy zu fahren, einem idyllischen kleinen Dorf, das gut dreißig Kilometer östlich vom Bosporus lag und vor allem dadurch auffiel, dass seine Bewohner allesamt blond und blauäugig waren. Sie waren Polen – daher auch der Name «Polonezköy», «Polendorf» –, Nachkommen jener polnischen Soldaten, die im Krimkrieg auf der Seite des Osmanischen Reichs gekämpft und dafür vom dankbaren Sultan Land erhalten hatten, wo sie sich mit ihren Frauen und Kindern niederließen und sich so verhielten, wie sich das für gute polnische Bauern gehört. Sie bauten hübsche Bauernhöfe und paarten sich fleißig untereinander – mit dem Ergebnis, dass das Land ringsum sehr grün und die Inzucht in der Bevölkerung sehr weit fortgeschritten war.
Die Bauersleute von Polonezköy erhielten ihre Höfe seit Generationen unter anderem dadurch, dass sie Kost und kurzzeitige Logis (ausgesprochen kurzzeitig sogar, genau genommen stundenweise) für reiche Herren aus Istanbul anboten, die für die unerlaubten Stelldicheins mit ihren Geliebten einen verschwiegenen, idealerweise noch von heidnischen Christen geführten Ort benötigten. Das Dorf war eine reizvolle, altmodische Variante des klassischen Stundenhotels, und Taylor war schon einige Male mit der einen oder anderen Freundin dort gewesen.
Nachdem sie ein paar Kilometer landeinwärts gefahren waren, veränderte sich die Umgebung völlig. Das vorstädtische Chaos am Ufer des Bosporus wich der schroffen Berglandschaft Anatoliens: trocken, staubig und fast menschenleer. Am Ostufer des Bosporus schwappte Europa noch ein Stück nach Asien hinein, reichte aber kaum weiter als drei, vier Kilometer. Östlich von Beykoz verstieß Taylor gegen seine eigene Regel und fragte nach dem Weg. «Polonezköy?», erkundigte er sich bei einem hageren türkischen Herrn, der glaubte, er meine Polen, und nach Nordosten, Richtung Warschau, deutete. Schließlich fanden sie aber jemanden, der sie in die richtige Richtung wies, und der Wagen holperte eine schmale, unbefestigte Straße entlang, während Taylor am Autoradio drehte.
«Sie sind nicht verheiratet», stellte Anna mit Blick auf Taylors linken Ringfinger fest, als er das Lenkrad zu ihr hin drehte.
«Nicht mehr», sagte Taylor. «Meine Frau hat mich vor einem halben Jahr verlassen.»
«Und warum? Wenn das keine zu intime Frage ist.»
«Wir waren inkompatibel.»
«Was meinen Sie damit?»
«Wir haben einfach nicht mehr zusammengepasst. Meine Frau wollte, dass ich sesshaft werde, mich um eine Stelle im Innendienst bemühe, mit ihr Kinder bekomme und den ganz normalen Familienvater spiele. Aber irgendwann hat sie es aufgegeben.»
«Wieso?»
«Wahrscheinlich, weil sie eingesehen hat, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. Meine Frau ist eine Umgestalterin. Eine notorische Bessermacherin. Sie hatte bereits zu lange die Augen vor den Tatsachen verschlossen.»
«Und die wären?»
«Ich wollte mich einfach nicht ändern. Ich mochte mich so, wie ich war. Sie hat nur ihre Energie verschwendet.»
Anna nickte und wusste nicht recht, ob sie nun Mitleid mit Taylor oder seiner Exfrau haben sollte. Taylor drehte weiter an den Radioknöpfen.
«Ich versuche, den Polizeisender reinzukriegen», erklärte er. Das weiße Rauschen wurde mal stärker, mal schwächer, doch dazwischen hörte man
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