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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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wollte die Welt verbessern. Sie wollte Gutes tun, um jeden Preis. Zu dem Entschluss, Harvard zu verlassen, hatte sie sich durchgerungen, weil ihr immer stärker bewusst wurde, wie viel Not und Unordnung in der Welt herrschte. Sie las von Libanesen, die auf den Straßen von Beirut abgeschlachtet wurden, oder von den Massakern der Roten Khmer, und sie wollte etwas dagegen unternehmen. Wenn man solche Gefühle mit achtzehn oder neunzehn hat, geht man auf Demonstrationen und Protestmärsche; hat man sie mit Ende zwanzig, kann es passieren, dass man bei der CIA landet.
    Auch was ihre wissenschaftliche Arbeit anging, war Anna nicht ganz ehrlich gewesen. So staubtrocken, wie sie Stone erzählt hatte, waren ihre Studien gar nicht – im Gegenteil, sie trieften regelrecht vom Blut ganzer Generationen. Annas Dissertationsthema hatte sie in engen Kontakt mit einer der großen Menschheitskatastrophen gebracht: dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und dem Massenmord an Armeniern und Türken in Ostanatolien. Erstmals wurde sie mit dem Thema im ersten Collegejahr in Radcliffe konfrontiert, durch ihre Zimmergenossin Ruth Mugrditchian. Die arme Ruth, mit ihrem Nachnamen, den kein Mensch richtig aussprechen konnte, und den großen, traurigen Augen, war Halbarmenierin. Anna, die privilegierte höhere Tochter frisch vom Internat, war sich anfangs nicht ganz sicher gewesen, ob sie Ruths Einladung, Thanksgiving bei ihren Eltern in Worcester zu verbringen, tatsächlich annehmen sollte. Schließlich hatte sie aber doch ja gesagt, und die Geschichten, die sie bei dem viertägigen Aufenthalt überdie Massaker von 1915 erzählt bekam, hatten einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen. Sie erfuhr, wie Ruths Großtante Ahvanie, die auf dem Marsch durch die syrische Wüste irgendwann erschöpft und halb verhungert in einem Graben zusammengebrochen und zum Sterben zurückgelassen worden war, aus der Bibel, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, noch so viel Kraft schöpfte, um nach Aleppo und schließlich nach Amerika zu gelangen. Sie hörte die Geschichte von Suren, dem Großvater von Ruths Cousine, dessen Mutter kurz vor ihrem Tod einem Araber Geld gegeben hatte, damit er ihren kleinen Sohn zu sich nahm und ihn so lange in einem Brunnen versteckte, bis die Türken wieder fort waren. Auch Suren hatte es schließlich nach Amerika geschafft. Diese Geschichten des Leids und der Erlösung eröffneten einen tiefen Einblick in eine verschworene Gemeinschaft, und für eine junge Frau wie Anna, die aus einer alteingesessenen amerikanischen Familie stammte und gerade am Anfang ihres Studiums in Radcliffe stand, besaßen sie den exotischen, aromatischen Geschmack einer reifen Feige.
    Das Problem war, dass Anna nicht nur die Armenier mochte, sondern auch die Türken, die sie im Großen und Ganzen als anziehendes und diszipliniertes Volk empfand. Umso weniger konnte sie sich erklären, was da eigentlich am Ende des 19. und zu Beginn des 20.   Jahrhunderts in der Türkei geschehen war. Wäre dieser Völkermord auf das Konto durch und durch verabscheuungswürdiger Menschen gegangen, wäre es ihr sehr viel leichter gefallen, doch so entstand ein moralisches Dilemma. Und Anna wollte wissen, weshalb zivilisierte Völker so ungeheuerliche Dinge taten. Solche Ereignisse waren es wert, dass man sie eingehend studierte.
    Als Anna ernsthaft anfing, sich mit der osmanischen Geschichte zu befassen, entwickelten sich ihre Forschungen schnell zueiner Suche nach dem Augenblick, der die Welt aus den Angeln gehoben, in dem die grauenvolle Geschichte des 20.   Jahrhunderts mit seinen zwei Weltkriegen, der Ermordung von sechs Millionen Juden und dem Tod von zwanzig Millionen sowjetischer Bürger im Zweiten Weltkrieg und einer vergleichbaren Zahl in Stalins Gulags ihren Anfang genommen hatte. Anna glaubte, dass Ruth Mugrditchian die wahre Antwort auf diese Frage kannte. Am 24.   April 1915, als die osmanischen Türken damit anfingen, die armenische Bevölkerung Anatoliens – über eine Million Menschen – durch die Wüste in den Tod zu treiben, schien die Welt plötzlich wahnsinnig geworden zu sein. Und wie es sich für eine gute Wissenschaftlerin gehört, machte sich Anna auf die Suche nach den Wurzeln dieses Wahnsinns, und ihre Suche führte sie immer tiefer in jene geheimnisvolle Welt, in der alle großen Tragödien ihren Ursprung haben. Irgendwann sprach einer ihrer Dozenten sie an und stellte die nötigen Kontakte her. Er hatte

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