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schon vor Jahren festgestellt, dass sie, wenn sie so bestellte wie ein Mann, auch wie ein Mann behandelt wurde. Zumindest vom Kellner.
«Wie ist er denn so?», wollte Anna wissen.
«Wer?»
«Stone.»
«Er ist einer von der alten Schule. Und im Grunde ist er genau wie die anderen alten Knaben auch, allenfalls ein bisschen intelligenter. Wenn man so viel Zeit mit ihnen verbracht hat wie ich, kann man sie irgendwann nicht mehr so recht auseinanderhalten.»
«Und wie sind diese alten Knaben?»
«Das weißt du doch ganz genau», sagte Margaret. «Sie trinken zu viel. Sie laufen jedem Rock hinterher. Sie sind jovial und selbstgefällig und reden im Restaurant immer viel zu laut.»
«Stone war gar nicht laut.»
«Er ist ein ruhigerer Vertreter, aber glaub mir, er gehört trotzdem zu den alten Knaben. Du darfst nicht vergessen, dass ich ein Leben lang Zeit hatte, diese Männer zu beobachten, meist aus einer eher untergeordneten Position. Ich weiß Dinge über sie, die sie selbst voneinander nicht wissen.»
«Beispielsweise?»
«Ich kenne ihre Eitelkeiten. Ihre Sorgen. Ihre Schwächen. Die Dinge eben, die nur Frauen von Männern wissen. Im Fall Stonemuss ich allerdings zugeben, dass ich ihn nie ängstlich oder verzagt erlebt habe.»
Der Kellner brachte die Drinks.
«Auf London!» Margaret hob ihr Glas und stieß mit Anna an.
«Auf den Erfolg!», erwiderte Anna. Die Vorstellung, einem geheimen Club anzugehören, der die Mission verfolgte, fremde Länder zu bereisen, in guten Restaurants zu essen und dabei noch die Welt zu retten, gefiel ihr immer besser.
«Irgendwie fand ich ihn sogar sexy», sagte sie. «Für einen Mann in seinem Alter.»
«Wen?»
«Stone.»
Margaret lachte. «Aber sicher», sagte sie. «So wirken sie alle. Das ist der Reiz des Geheimnisvollen. Es verleiht einem Mann eine gewisse Aura, als wüsste er, was er tut, auch wenn er in Wahrheit keinen blassen Schimmer hat. Ich glaube, deswegen bleiben die alten Knaben auch alle so lange dabei.»
«Um Frauen ins Bett zu kriegen?»
«Ich bitte dich, Anna!» Margaret sah die Jüngere mit gespielter Entrüstung an. Aber natürlich hatte sie genau das gemeint.
«Wie wäre er denn so als Chef?»
«Warum fragst du? Hat er dir einen Job angeboten?»
«Nein», sagte Anna. «Ich bin nur neugierig.»
«Bis zu einem gewissen Grad wäre er sicher ein guter Chef. Über eins musst du dir bei den alten Knaben allerdings im Klaren sein: Es fällt ihnen sehr schwer, Frauen als Kollegen zu betrachten. Sie sehen uns in etwa so, wie Erwachsene Kinder sehen. Sie haben uns gern, finden uns nett und putzig. Und manchmal respektieren sie uns sogar. Aber trotzdem spielen wir aus ihrer Sicht in einer ganz anderen Liga.»
«Stone sah müde aus.»
«Das tun sie alle», entgegnete Margaret. «Kein Wunder, sie sind ja auch müde. Müde und erschöpft. In letzter Zeit läuft es nicht allzu gut für die alten Knaben, ist dir das noch nicht aufgefallen? Ihre Welt gerät völlig aus den Fugen, und sie wissen nicht, was sie dagegen tun sollen.»
«Und was ist mit den Jüngeren?»
«Die sind eine Katastrophe.»
«Wie meinst du das?»
«Sie wären gern so wie die Alten, aber das geht nicht, weil sich die Welt inzwischen geändert hat. Die Dummen versuchen es trotzdem noch, aber wer halbwegs intelligent ist, sieht ein, dass es vorbei ist.»
«Und was machen sie dann, die Intelligenten?»
«Sie werden schrullig. Oder sie steigen aus.»
Der Kellner näherte sich erneut und zählte ihnen die Tagesspezialitäten auf.
«Ich nehme den Bohnensalat», sagte Anna, «und danach die gegrillte Seezunge, ohne Sauce, bitte.» Der Kellner runzelte die Stirn.
«Nennst du das ein Abendessen?», fragte Margaret. Dann wandte sie sich an den Kellner. «Ich nehme die Austern. Und anschließend das Rib-Eye-Steak.» In ihrem Ton schwang die Autorität der überzeugten Fleischesserin mit.
«Ich habe mich anders entschieden», sagte Anna. «Ich nehme dasselbe. Die Austern und das Steak.»
«Sehr wohl, Madam.» Dem Kellner wurde bei dieser Bestellung sichtlich warm ums Herz. «Darf ich Ihnen noch die Weinkarte bringen?»
«Selbstverständlich», sagte Anna und wählte einen recht respektablen Burgunder.
Anna war nicht ganz ehrlich zu Stone gewesen und letztlich auch zu Margaret nicht. Die Gründe, die sie zur CIA geführt hatten, waren sehr viel komplexer als bloße Langeweile. Sie litt an einer Krankheit, die bei Geheimdienstlern ziemlich verbreitet ist und mitunter tödlich endet: Sie
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