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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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verfolgte nur die Spuren der Taten, wenn es denn solche gab. Er dachte an das Bild, das ihm vor Augen stand. Er musste unbedingt herausfinden, was es damit auf sich hatte.
    Henri wusch sich und trocknete sich mit einem rauen Leinentuch ab, ging in die Küche, wo schon einige Helfer hantierten, ließ sich verdünnten Wein bringen, in den er kerniges Würzbrot eintauchte, und stärkte sich so für den kommenden Tag.
    Dann ging er hinüber ins Skriptorium. Er nahm den Umweg durch die Kirche und schlug ein Kreuz. In der Werkstätte bemerkte er sofort die Unordnung. Hatte der Abt nicht gesagt, man hätte die Tür verschlossen gehalten? Am Abend zuvor hatte Henri das Skriptorium jedenfalls nicht aufsuchen dürfen. Seine drängenden Bitten hatten nur nachdrücklichere Ablehnung zur Folge.
    Henri nahm die Blätter in die Hand, die auf der Arbeitsplatte des langen Wandtischs lagen. Draußen vor den Fenstern graute jetzt der Morgen und spendete ein mattes Licht. In manchen Rahmen steckten verblasste Bilder, auf dem Spiegel der Staffelei befand sich ein großes Blatt, das ungelenke Farbstriche trug. Aber in den Regalen an den Wänden lagen noch alle Arbeiten, die er hier schon bei seinem ersten Besuch gesehen hatte. Wie die Farben noch immer leuchteten! Wie der Goldschmuck der Bordüren, auf den der junge Buchmaler so großen Wert gelegt hatte, den Text als etwas Erhabenes auszeichnete! Aber der arabische Text war verschwunden.
    Und das Bild, das den Sakristan im Augenblick seines Todes zeigte, ebenfalls. Hatte es dieses Bild wirklich gegeben, oder war Henri einer Einbildung zum Opfer gefallen?
    Das ganze Manuskript war nicht vorhanden, also konnte Henri sich auch die Zeichnungen nicht ansehen. Er trat näher an den Tisch mit den Tiegeln und Töpfen für die Grundsubstanz und die Deckfarben und musterte die Gefäße für Tinte und Rohrfedern mit aufmerksamen Blicken.
    Die schweren Gedanken der letzten Tage fielen für einen Moment von ihm ab. Welch einer schönen, befriedigenden Arbeit diese Buchmaler, Schreiber und Kopisten nachgingen! Sie erschufen mit jedem Satz, mit jedem Ornament eine neue, kleine Welt, die es vorher nicht gegeben hatte! Aber alles auf diesem Tisch musste gesäubert, die Pinsel in die Kräuteressenzen getaucht, die Unterlagen gereinigt werden. Nach dem, was hier passiert war, würden Tage vergehen, bis die Mönche wieder mit dem Malen beginnen konnten.
    Wo würden sie wohl die Handschrift mit den Bildern verwahren? Wer von den Klosterbrüdern hatte sie versteckt?
    Henri atmete tief ein, sog den Geruch nach Farbpulver, Wachs, Honig, Tempera, Harz und Leim genüsslich ein. Der junge Schreiber brauchte neues Material für die weichen und glatten Übergänge der hier gepflegten feinen Helldunkelmalerei, Azurit und Grünspan, die feinen Goldplättchen für den Schmuck, neues Feuer, Bindemittel für die Pigmente.
    Und frisch gewalktes Büttenpapier aus den Papiermühlen, die Henri auf dem Weg hierher gesehen hatte. Oder auch den Papyrus, den man aus Ägypten eingeführt hatte, den dichten Schreibstoff aus der Papyrusstaude.
    Und jemand musste den Staub und die Spinnweben wegwischen. Es musste im Kloster ungewöhnlich viele Spinnen geben. Überall waren ihre Netze gespannt, und darin hingen die ausgebluteten Hüllen ihrer Opfer, schwarze Fliegen, Käfer und Würmer.
    Henri fuhr nachdenklich mit dem Zeigefinger über das Holz des Arbeitstisches. Die Spur zog sich wie ein feiner Pfad durch die herumliegenden Blätter und Bilder.
    Was war hier geschehen? Welche geheimnisvollen Manuskripte waren hier geschrieben, welche Bilder gemalt worden? War es gefährliches Wissen, das hier verbreitet wurde? Aber von wem? Und wer wollte es verhindern?
    Während er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass in einer Ecke, dort, wo die Spur seines Fingers hingeführt hatte, mehrere Papyrusblätter von gleichem Format übereinander lagen, die ein übereinstimmendes Motiv zeigten. Er konnte sich nicht erinnern, etwas Derartiges vorher hier gesehen zu haben, und so nahm er den Stapel neugierig in die Hände.
    Auf den ersten Blick sah es so aus, als habe ein Unbefugter versucht, Sätze auszulöschen. Aber dann begriff Henri, dass das Gegenteil der Fall war.
    Er sah wie in einem Mosaik halbe Motive, angemalt und wieder abgebrochen, Versuche, mit Farben und Umrisslinien eine Szene zu malen. Sah, wie Textzeilen zusammengezogen worden waren, die Zeilenzwischenräume undeutlich gemacht, die Schrift dort, wo eine Zeile fehlte, vergrößert

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