Das neue Evangelium
religiösen Bedenken!«
»Das fällt mir schwer! Denn ich erinnere mich zunehmend an Dinge, die ihr Christen in unseren Ländern angerichtet habt. Die Freundschaft zu dir, mein Henri, hat diese Erinnerung immer verdeckt. Jetzt sehe ich alles sehr deutlich. Das geht mir nahe!«
»Uthman! Es ist nicht das erste Mal, dass wir religiöse Bedenken zu überbrücken haben!«
»In diesem Kloster geschehen merkwürdige Dinge…«
»Die wir aufklären können!«
»Dir zuliebe, mein Freund!«, stimmte Uthman schließlich seufzend zu. »Denn wir sind schon zu lange miteinander geritten, als dass ich dir etwas abschlagen könnte.«
Sie machten sich sofort auf den Weg.
Madeleine fühlte sich in ihrer Klosterzelle wie ein gefangenes Tier. Sie schritt unruhig umher wie eine besorgte Tigerin: vier energische und ausholende Schritte in die eine Richtung, vier weitere in die andere und dann wieder vier Schritte zurück…
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war an einem Wendepunkt ihres Lebens angekommen, das spürte sie. Etwas würde sich bald ändern. Und sie wollte aktiv werden, selbst eine Entscheidung treffen, aber sie fühlte sich wie gelähmt. Wieder einmal, dachte sie, warte ich darauf, dass andere für mich entscheiden. Dass das Schicksal die Entscheidung übernimmt. Ich bin nicht in der Lage, das Richtige zu tun.
Sie konnte nicht nach Notre-Dame zurückkehren, es wäre einer Niederlage gleichgekommen. Sie würde Uthman verlieren und mit ihm auch ihren Platz an der Seite der Gefährten. Was blieb ihr? Sollte sie sich einen Mann suchen, den sie heiratete, der sie versorgte? Vielleicht blieb nur ein Ausweg, den schon viele Frauen vor ihr gegangen waren, ein Weg, den sie im Moment noch ablehnte. Aber ihn zu gehen blieb als Letztes – der Eintritt in ein Kloster.
In diesem Augenblick sah Madeleine, dass ein Reiter an der Klosterpforte angekommen war. Er stieg ab und ließ sein Pferd in den Stall führen. Dann kreuzte er energischen Schrittes den Klosterhof, wurde auf seinem Gang zum Frauentrakt von einer dienenden Schwester aufgehalten, ließ sie aber einfach stehen und betrat den flachen Bau.
Es war Jean Grimaud.
Madeleine erzitterte. Zwiespältige Gefühle kamen in ihr auf. Schon hörte sie, wie sich Schritte näherten. Einerseits wünschte sie sich, dass dieser Fremde mit den erlesenen Umgangsformen sich ihr näherte, andererseits fürchtete sie sich davor. Denn sie wusste nicht, wie sie sich verhalten würde. Sie wusste nicht, ob sie ihm gewachsen war.
Der Besucher wurde schließlich doch noch am Ende der Treppe aufgehalten, kein Mann durfte den Gästetrakt der Frauen betreten. Eine Laienschwester klopfte wenig später an die Zellentür, Madeleine öffnete, der Besucher wurde ihr angekündigt.
Madeleine strich sich eine ihrer weißblonden Haarsträhnen aus der Stirn, ließ ihre Hände über ihre Brüste gleiten und ging zu ihm hinaus.
Bevor die Gefährten ihren Plan, zum Kloster des heiligen Barnabas zurückzureiten, umsetzen konnten, geschah etwas. Plötzlich stand die Stadt Salamis wie eine Barriere zwischen ihnen und ihrem Weg.
Es war wie ein Fingerzeig von irgendwoher. Die weiße, helle Stadt verwandelte sich plötzlich in eine Nekropole. Ihre dunkle Seite trat hervor. Und Henri gelang es nicht, darüber hinwegzusehen.
Er hatte schon viele altchristliche Totenstädte gesehen, Begräbnisstätte über denen schwarze Vögel kreisten, Tiere, die sich von toten Organen ernährten, solche Nekrophagen waren ihm im Heiligen Land vorgekommen wie weissagende Totengeister, die etwas zeigen wollten, die das Tote heraufbeschwören wollten, die sagen wollten, welche dunkle Welt es gab, jenseits der hellen und bekannten.
Henri hatte sich immer betroffen gefühlt von der Gegenwart des Todes. Jetzt, als sie die ausgedehnten Viertel der Begräbnisstätten von Salamis passierten, kam es ihm in einem erschreckenden Moment so vor, als stünde die Welt Kopf. Das Tote war an die Oberfläche getreten. Und sie selbst waren bereits ein Teil davon.
Henri hielt abrupt sein Pferd an und stieß einen seltsamen, dumpfen Laut aus.
»Was ist?«, fragte Uthman überrascht, der neben ihm geritten war.
»Diese Geisterstadt«, sagte Henri und deutete mit dem Finger, »was will sie uns sagen, Uthman?«
»Wie meinst du das? Es sind Friedhöfe.«
»Ja eben, sie bedecken alles, das hört nicht auf bis zum Horizont! Ist das Leben eine Totenstätte? Sind es die ausgeblichenen Knochen von Toten, die letztlich vom Leben
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