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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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Gartenbank zurück und ließ seinen Blick über die Blumenspaliere und Rabatten wandern. Große Doldenrispen umhüllten ausladende Sträucher, Efeu, immergrüne Kletterrosen und Kräuterstauden rankten sich an einer Mauer empor.
    »Es ist schön hier, nicht wahr?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. »Alles an solchen Orten spricht davon, dass es eine Lust ist zu leben. Der Tod ist weit weg von hier. Er spielt keine Rolle. Und doch ist er stets gegenwärtig, mir kündigt er sich manchmal mit Macht an. Aber das ist jetzt unwichtig. Ihr seid wichtig, schöne Madeleine! Die wahre Blume dieses Paradiesgartens seid Ihr! Ihr verzaubert mich!«
    »Ihr seid mir so fremd! Und dann wieder ganz nahe! Wie stellt Ihr das an, Herr Grimaud?«
    »Ich stelle nichts an, meine Schöne. Es ist einfach da, Anziehung, Abstoßung. Ihr wollt alles, was ich will, aber Eure keusche Sitte sagt, Ihr müsst es abwehren. Nun gut, überstürzen wir nichts. Es hat noch Zeit. Aber ich will nicht von mir erzählen. Ich bin nur ein Mann, der mit wachen Sinnen durch das Leben streift. Aber Ihr müsst mir von Euch erzählen!«
    »Ach, in meinem Leben ist nicht viel passiert!«
    »Immerhin hat es Euch hierher verschlagen! Das ist recht ungewöhnlich für eine schöne junge Frau aus der französischen Bretagne!«
    »Es wäre nicht geschehen, Herr Grimaud, wenn ich nicht an der Seite eines Mannes gewesen wäre, der große Hoffnungen in mir geweckt hat. Er und seine Freunde waren es, die mir gezeigt haben, wie das Leben sein könnte, wenn man es mutig anpackt.«
    »Dieser Junge?«
    »Sean of Ardchatten und die drei Männer, mit denen ich gereist bin.«
    »So erzählt von diesen Männern«, sagte Grimaud lauernd.
    »Nein, das möchte ich nicht. Es sind zu viele Dinge dabei, die nicht erzählt werden sollten. Es – geht Euch auch nichts an, verzeiht.«
    »Erzählt schon«, sagte Grimaud grob, um sich sogleich mit einem liebenswürdigen Lächeln zu entschuldigen. »Ich bin zu ungeduldig, verzeiht. Aber ich wäre Euch, schöne Madeleine, sehr verbunden, wenn ich von Euch etwas über diese Männer erfahren könnte.«
    »Aber warum interessieren sie Euch?«
    »Ach, das braucht Euch nicht zu kümmern. Was wollt Ihr Euer hübsches Köpfchen über Angelegenheiten zerbrechen, die schon mir oft viel zu kompliziert sind?«
    Madeleine hatte plötzlich das Gefühl, Grimaud sei weniger an ihr als an Henri und seinen Freunden interessiert. Das Gefühl der Zuneigung, das sie zu diesem Fremden verspürte, der behauptete, aus Paris zu kommen, verschwand. Madeleine war nun misstrauisch und schwieg.
    Grimaud bemerkte ihre Verstimmung und strich ihr mit seinem Zeigefinger über den nackten Arm. Madeleine spürte, wie sich die feinen, blonden Härchen auf ihrem Arm aufrichteten.
    »Ihr müsst nichts sagen«, flüsterte Grimaud. »Ich bin froh, einfach nur in Eurer Nähe sein zu dürfen! Die Botschaften, die ich von Euch empfange, von Eurem Liebreiz, von der Schönheit Eures Leibes, sind mir teuer genug.«
    »Ach, Herr Grimaud!«
    »Ich wünschte«, flüsterte Grimaud, »ich könnte – in Euch hineinkriechen.«
    »Was?« Madeleine ließ ihren Blick irritiert durch den Kräutergarten wandern. »Ihr seid forscher, als es sich geziemt, Herr Grimaud!«
    »Lasst uns ausreiten, Madeleine! Die Natur um uns herum ist so betörend! Ich zeige Euch alles!«
    Madeleine hörte die Stimme in ihrem Innern, die sie warnte. Dieser Mann würde keine Grenzen kennen. Er würde sie nicht respektieren.
    Aber gleichzeitig war in ihr eine solche Lebenslust, ein solches Gefühl des Aufbruchs, dass sie zu allem bereit war. Wozu sparte sie sich denn auf? Das Leben ging dahin.
    »Ja«, sagte sie deshalb, »reiten wir aus.«

 
    8
     
     
     
    Ende Februar 1320. Das Sakrileg
     
    Die ganze Nacht über hörte Henri von seiner Schlafzelle aus Stimmen und Gelächter aus der Stadt herüberdringen. In Enkomi genoss man das Leben, anders als in Salamis. Als er früh, noch vor den Mönchen, aufstand, war er nicht ausgeschlafen, etwas in ihm zog ihn in die Nacht zurück. Er hätte am liebsten die Augen verschlossen vor all den Gedanken, die ihn bedrängten.
    War das, was er vorhatte, nicht eine Entweihung heiliger Orte? War es nicht Schändung und Missbrauch? An gewissen Dingen sollte man nicht rühren, weder in Wort noch Tat.
    Aber dann dachte er an das Skriptorium oben, jenseits von Schlafsaal und Kirche. Er war es nicht, der das Sakrileg begehen würde, die Entweihung, es waren andere gewesen. Er

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