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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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wurde. Das stammte gewiss nicht von dem jungen Schreiber, den er hier an der Arbeit gesehen hatte.
    Henri sah auf dem beschädigten Manuskript auch ein mattes Grün und darauf bunte Pigmente. Sollte das Wasser darstellen, vielleicht einen See? Auf den nächsten Blättern hatte jemand weiter an dem Bild gearbeitet. Jetzt kamen Äste von Bäumen in einer Reihe dazu und ein halber Himmel mit Vogelstrichen. Auf dem nächsten Blatt waren die Umrisse eines verkrüppelten Zwerges zu sehen. Und kam nicht dort das Bild zum Vorschein, das er suchte?
    Henri blickte genauer hin, die Farben waren verblichen, wie getilgt. Er glaubte dennoch, die Szene vor sich zu sehen, die ihm vor Augen stand. Der Sakristan, das Ufer, der See, der abgeschossene Pfeil. Und waren da im Schatten der Uferböschung nicht mehrere Reiter zu sehen?
    Es war einfach nicht mehr genau zu erkennen. Diese verlaufene Spur war undeutlich.
    Henri seufzte. Unter den Bildern liefen Textzeilen fort, die aber ebenfalls unleserlich gemacht worden waren.
    Henri beugte sich über die Blätter, er sah sich die Zeichnung genauer an, er durchdrang mit seinen Blicken das Gespinst der Pinselstriche, die sich überlagerten – doch die Handschrift darunter war ein für alle Mal verloren.
    Es klopfte an der Tür zum Skriptorium.
    Henri fuhr zusammen. Dann öffnete er entschlossen. Draußen stand ein Mönch. Ein Hüne, der einen schwarzweißen Umhang trug, darüber die Ordenskette. Sein welliges, blondes Haar war unbedeckt. In seinem weichen Gesicht mit dem ausgeprägten Kinn stand ein Lächeln, aber es reichte nicht bis zu seinen Augen.
    Der Mann trat wortlos ein. Er drehte sich um und sah Henri an. Dann flogen seine Blicke über die Arbeitsgeräte.
    »Was tut Ihr hier in der Schreibwerkstatt?«
    »Es ist nicht verboten, sich hier umzusehen, nicht wahr? Jedenfalls habe ich die Erlaubnis des stellvertretenden Abts.«
    »Ich wollte Euch abholen.«
    »Woher wusstet Ihr, dass Ihr mich hier findet?«
    »Ich wollte Euch abholen.«
    »Nun, das sagtet Ihr schon. Aus welchem Grund?«
    »Der Leiter dieses Skriptoriums sitzt wie jeden Morgen im Schwitzbad. Er wünscht, Euch zu sehen. Vielleicht wollt Ihr Euch auch die Beichte abnehmen lassen? Ich bringe Euch zu ihm.«
    »Aber ich will nicht beichten, ich will mir gewisse Dinge ansehen!«
    »Kommt!«
    »Wie heißt der Mönch?«
    »Er heißt Proskenion.«
    »Ich habe noch nie von ihm gehört.«
    »Er tritt niemals in den Vordergrund.«
    Henri seufzte. »Gehen wir also.«
    Im Treppenhaus des Turms merkte Henri, dass ein kräftiger Wind aufgekommen war, der durch die Fensteröffnungen pfiff. Schnell schloss er die Tür, bevor die Papiere durcheinander gewirbelt werden konnten. Der Mönch fegte vor ihm die Stiegen hinunter. Henri folgte ihm mit wachsendem Unwillen.
    Die Gänge des Klosters waren wie immer in Halbdunkel getaucht. Feuchtigkeit lag in der Luft. Henri bemerkte erst jetzt, dass die Wände dieses Traktes Stockflecken zeigten. In den Gängen liefen lauter Katzen, die von draußen hereinsprangen und um die Türen strichen. Hölzerne Fensterläden klapperten. Junge Mönche mit gebauschten Kutten drückten sich in die Gesindenischen und blickten Henri neugierig entgegen. Kurz darauf erreichten er und der junge Mönch das Zimmer des Abts.
    Der Anblick war irritierend.
    Der Leiter des Skriptoriums saß nackt in einer breiten Zinkwanne, junge Mönche kamen und gingen und gossen aus Krügen heißes Wasser nach. Rauchschwaden stiegen auf und umhüllten den krebsroten fetten Mann. Henri dachte mitleidig, dass er einer schuppigen Kröte ähnelte.
    Der unförmige Mann rieb sich mit einem festen Schwamm die gerötete Haut, er schrubbte und schnaubte, als büße er für die Sünden der anderen. Seine Fettpolster verhinderten, dass Henri etwas sah, dass ihn als Mann identifizierte, jede Kontur löste sich von oben nach unten in immer dickere Wogen von unförmigem Fleisch auf.
    Der Mönch Proskenion winkte ihn heran. »Ich muss mit Euch reden!«, sagte er. »Setzt Euch hier auf den Hocker.«
    In seiner Stimme war ein befremdliches Glucksen, aber er wirkte freundlich.
    »Wie kommt es, dass ich Euch bisher nicht zu Gesicht bekommen habe?«, fragte Henri erstaunt.
    »Ich kam erst gestern aus Famagusta zurück, wo wir Farbe und Papyrus einkauften, mein Sohn! Es gibt hier inzwischen den besten Papyrus der Welt, wir bauen die Stauden am Meer an. Man kann ihn für Rollen, Einzelblätter und Bücher gleichermaßen verwenden. Wir nehmen nur Charta regia,

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