Das neue Evangelium
bleiben?«
»Wir müssen alle sterben, das ist nichts Neues, Henri!«
»Ja. Aber alles zu seiner Zeit. Hier, in dieser Stadt, stürzt doch alles durcheinander, die Gräber nehmen Besitz vom Lebensraum der Menschen, es ist doch, als würde man von einer unerklärlichen Macht darauf aufmerksam gemacht. Empfindest du das nicht?«
»Du bist überreizt, mein Freund, und dadurch siehst du einige Dinge unklar, das ist manchmal so. Auch ich kenne Tage solcher Fehleinschätzungen, wenn mir jeder schwarze Vogel plötzlich wie ein Bote aus dem Jenseits erscheint.«
»Es tröstet mich, wenn du das sagst. Aber es nimmt mir nicht den Schrecken. Woher kommen solche Stimmungen, sind es nicht tatsächlich Botschaften, die man beachten sollte? Alles sagt mir: Da, da! Innere Stimmen reden unablässig auf mich ein, heiße Gefühle schlagen über mir zusammen wie eine Welle!«
»Der Tod ist immer gegenwärtig«, sagte Uthman, »wohl dem, der das manchmal registriert.«
Henri atmete hörbar aus. »Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn er kommt, auch wenn man seine Gegenwart ahnt. So ist der Tod, solches berichten alle Gelehrten von ihm, er nimmt alles von einem mit und lässt keinen Rest. Diese Stadt Salamis macht mir regelrecht Angst.«
»Das liegt wirklich an dem Übermaß an Trümmern und Friedhöfen, die hier zu sehen sind. Es ist wie Treibsand, man befürchtet, nicht mehr herauszukommen.«
»Alles hier atmet Vergangenheit, ist übermächtig«, schauderte Henri. »Es bleibt an einem solchen Ort kein Platz für die Gegenwart.«
»Lasst uns schneller reiten!«, rief Uthman, auch seine Stimme war jetzt erregt.
Sean kam neben sie, und gemeinsam gaben sie ihren Pferden die Hacken.
Die Gäule flogen an den Grabfeldern vorbei, darunter befanden sich auch die Überreste einer Doppelkirche, die Templern und Johannitern gemeinsam gehört haben musste, Henri nahm flüchtig davon Notiz. Die rechteckigen, in den Boden mit Platten eingelassenen Gräber drumherum endeten erst an einem Tor. Es bestand aus mächtigen Steinquadern.
Als die Gefährten hindurchritten, war ihnen, als wäre um sie herum etwas Saugendes, ein Geräusch, ein Luftzug, der sie festhalten wollte, sie dann aber doch im letzten Moment entließ.
Sie trieben ihre Pferde noch weiter an.
»Ich bin keine Nonne! Ich bin nur Gast im Kloster. Bedrängt mich nicht, ich darf nichts Unzüchtiges tun, das die Gefühle meiner Gastgeber verletzt!«
Madeleine wehrte Grimauds Arm ab. Der Fremde mit den brennenden Augen an ihrer Seite kam ihr nahe. Aber die junge Frau spürte die Blicke der Mönche, die in der Prälatur hinter einem Fenstergitter standen und jede ihrer Bewegungen beobachteten.
Grimaud zog die Hand zurück. »Teure! Es läge mir fern, Euch zu bedrängen. Aber versteht, Ihr gefallt mir. Wie kann ich da anders sein als ein Tier, das seiner Natur folgt, weil es eine hilflose Beute wittert, die es unbedingt haben will. Und Ihr wollt es auch, das spüre ich doch ganz deutlich.«
»Redet doch nicht so, um Gottes willen!«, empörte sich Madeleine. »An diesem Ort zählt anderes als fleischliche Begierde, das solltet Ihr wissen.«
»Ich weiß es. Ihr seid schuld. Ihr verzaubert mich. Hört auf damit!«
Madeleine blickte Grimaud überrascht an. »Wie bitte? Seid Ihr nicht Herr Eurer Sinne?«
»Ihr überwältigt mich, Schöne.«
Sie saßen im hinteren Teil der Klosteranlage, hier befand sich ein liebevoll gepflegter Garten. Mauern aus roten Ziegeln und Natursteinen, Spaliere aus Holz, ein Zaun. Der weinberankte Laubengang sorgte für erfrischende Kühle an diesem schon heißen Tag, Nelkenstängel wuchsen durch niedrige Gitter, Schnitzereien an den Fensterbögen wirkten sehr verspielt.
Die beiden Besucher dieses Gartens waren betört von dem schönen, abgeschlossenen Ort. Die Rosenbeete zeigten sich noch verschlossen, aber es duftete nach anderen Blumenblüten, und die beiden nahmen es mit allen Sinnen wahr.
Madeleine seufzte.
Grimaud hatte sie hierher geführt, im sicheren Gespür für die Wirkung solcher Gärten auf junge Frauen. Madeleine war ihm hier hoffnungslos ausgeliefert.
»Erzählt mir von Euch, ich bitte Euch!«, sagte die junge Frau erregt. »Gebt mir das Gefühl, Ihr wollt mich nicht mit Gewalt erobern, sondern mit ehrlicher Zuneigung, mit Geduld und Respekt.«
Grimauds Gesicht wurde von einem flüchtigen Lächeln überzogen. In seinen feinen, aber von der Sonne braun gebrannten Zügen zeigte sich ein Ausdruck von Zurückhaltung. Er lehnte sich auf der
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