Das neue Evangelium
Henri hoffte, Joshua, der sich bei Glaubensbrüdern im nördlichsten Kloster Zyperns aufhalten wollte, gesund und in guter Stimmung anzutreffen. Bis zum Wiedersehen lagen noch drei Tagesritte vor ihnen.
In der Landschaft mit ihren spitzen Bergkegeln, tiefen Schluchten und schwer zu passierendem Unterholz nahmen sie hin und wieder frei stehende Bauwerke war. Es waren Kirchen, die aus frühester Christenzeit stammen mussten, denn manche waren beschädigt, bei vielen war das Dach eingestürzt. Henri war gerührt durch diesen Anblick. Ihm war, als käme er in die Heimat zurück. Hier war schon vor Jahrhunderten der Glaube mächtig gewesen. Uthman hatte ihm während des Reitens erzählt, wie er darauf gekommen war, dass die Schrift des Barnabas eine Fälschung sein musste. Wahrscheinlich hatte der Sakristan Alexios sie im Kloster St. Barnabas geschrieben, eine ketzerische Schrift, für die er bestraft worden war.
Es konnte aber auch ganz anders gewesen sein. Vielleicht war das Evangelium tatsächlich zur Zeit des Barnabas entstanden! Hatten nicht einige Kirchenväter spätestens im 4. Jahrhundert immer wieder auf ein solches apokryphes Evangelium hingewiesen? Aber niemand hatte je einen einzigen Satz daraus zitiert. Vielleicht aus Angst.
Wer konnte das alles klären? Uthman hatte den Papyrus, der schon so viel Unheil angerichtet hatte, in seiner Satteltasche verwahrt. Er wusste noch nicht, was damit geschehen sollte.
»Es waren nicht die Beschreibungen zu den Glaubensinhalten, die mich stutzig gemacht haben«, erklärte Uthman. »Ich war ja zunächst begeistert davon, dass dieses Evangelium des zypriotischen Juden Barnabas einen Nazarener schildert, der zu meinem Jesusbild wie auch zum Koran passt – kein Anspruch auf Gottessohnschaft, kein Ausscheren aus der jüdischen Tradition, kein Kreuzestod. Stattdessen die Ankündigung eines zukünftigen, letzten Propheten. Wunderbar!«
»Wer immer dieses Evangelium auch geschrieben hat«, meinte Henri, »es ging ihm also eigentlich um den Koran?«
»Ja und nein«, sagte Uthman. »Anfangs dachte ich das. Aber die Schrift enthält ebenso viele Abweichungen vom Koran wie Übereinstimmungen. Es ist ziemlich vertrackt!«
»Nenne mir einige dieser Abweichungen, Uthman!«
»Unser Koran kennt sieben Himmel, das neue Evangelium berichtet von zehn. Die Geburtsgeschichte Jesu wird anders erzählt als im Koran. Der Koran erwähnt Josef nicht und lässt Maria unter einer Palme in die Wehen fallen, die von einem Bach und Datteln gemildert werden. Im Barnabas-Evangelium kommt Jesus, wie in den Evangelien, in einer Herberge in Bethlehem zur Welt. Während gemäß des Korans bis zu vier Ehefrauen erlaubt sind – allerdings nur, sofern der Gatte garantiert, dass er sie alle gleich gerecht behandelt und ernähren kann –, lobt Barnabas die Monogamie. Er lobt auch das Mönchstum, die Klostergemeinschaft und die Askese, was der Koran sämtlich ablehnt – und mit ihm natürlich auch ich.«
»Ich weiß, du hast es mir oft genug gesagt.«
»Und ein typisches Element der Papstkirche, wie die Lehre vom Fegefeuer, findet sich auch bei Barnabas. Im Koran wird man so etwas nicht finden.«
»Das ist interessant«, sagte Henri. »Wie etwa lautet die Stelle aus dem Barnabas-Evangelium dazu?«
»Jesus soll diesem Text zufolge gesagt haben: An diesem verfluchten Ort werden die Ungläubigen für immer sein. Die Gläubigen werden Trost haben, denn ihre Qual wird ein Ende haben. Die Jünger fürchteten sich, als sie das hörten, und sagten: So müssen auch die Gläubigen in die Hölle? Jesus antwortete: Jeder, ganz gleich, wer er ist, muss in die Hölle eingehen. Doch es ist wahr, dass die Heiligen und Propheten nur dorthin gehen, um sie zu betrachten, sie erleiden weder Leid noch Strafe, und die Gerechten erleiden nur Furcht.«
»Mich schaudert es immer noch, wenn ich mir vorstelle, dass dieses Evangelium echt sein könnte«, sagte Henri. »Es hat mich gewaltig mitgenommen. Ich war völlig verzweifelt. Erst in der Stadtburg von Famagusta kam ich wieder zu mir.«
»So hat diese unselige Stadt Ammöchostos doch noch etwas Gutes gestiftet!«, rief Sean herüber, der zugehört hatte. Er war wieder halbwegs bei Kräften.
»Besonders stutzig wurde ich«, erklärte Uthman, »als ich bei Barnabas las, dass der letzte Prophet Mohammed zum Messias erklärt wird. Das ist ein Anspruch, den weder der Koran erhebt, noch hat ihn Mohammed je selbst erhoben. Ganz im Gegenteil, der Koran wird nicht müde, Mohammed
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