Das neue Evangelium
gestehen! Ich habe es – Kerl, nimm diesen Hieb! –, ich habe es herausgefunden, Henri! Ich hätte gut mit der Botschaft leben können, aber sie ist nicht echt, jemand… hat die Schrift gefälscht.«
»Uthman! Mein treuer Freund! Wenn das stimmen würde!«
»Es gibt keinen Zweifel daran.«
»Dann hatten die alten Evangelien Recht?«, fragte Henri mit einer Stimme, in die Mut und Kraft zurückkehrten.
»Darüber könnte ich natürlich mit dir streiten, mein Freund. Auf jeden Fall hat sich an der Ordnung der Dinge nichts geändert. Es ist alles wie zuvor. Dein Glaube ist gesegnet!«
Henri hörte sich schreien. Aus den Tiefen seiner Seele kam ein Schrei, ein wilder Schrei wie von jemandem, der ins Leben zurückkehrte.
Henri sah seine Gefährten mit dem Mut der Verzweifelung kämpfen. Und er griff nach dem Schwert eines Gefallenen. Als er es in der Hand hielt, spürte er, wie ihn seine vertraute Kraft wieder durchströmte.
Es lohnte zu leben! Es lohnte zu kämpfen! Die Wahrheit war auf ihrer Seite!
Er kämpfte sich zu Uthman durch. Und der Sarazene trat einen Schritt zur Seite. Sie blickten sich an. Es war wie in alten Zeiten. Jetzt fochten sie Seite an Seite, unüberwindlich für jeden Angreifer.
Von oben herab schienen immer neue Soldaten in den Kampf einzugreifen. Schon lagen die Gefallenen auf der Treppe so hoch, dass kaum ein Fortkommen möglich war. Henri und Uthman hieben mit ihren Schwertern auf die Feinde ein und schlugen eine Bresche. Wer an ihnen vorbeitaumelte, wurde von Jesus und Ludolf in Empfang genommen und niedergestreckt.
Langsam ergriff die Soldaten Panik. Diese Kämpfer vor ihnen waren wahre Teufel! Hätten sie von der Einkerkerung nicht geschwächt sein müssen? Wer gab ihnen diese Kraft? Sie mussten mit der Hölle im Bunde stehen!
»Zurück! Wir erwarten sie oben! Sie können nicht entkommen!«, schrie einer.
Schritt für Schritt zogen sich die Soldaten zurück. Die Gefangenen drängten nach. Als sie oben in der Wachstube der Büttel angekommen waren, erkannten Henri und Uthman, dass der Kampf aussichtslos war. Dicht an dicht standen die Bewaffneten. Es gab kein Durchkommen.
Es waren einfach zu viele Gegner.
Henri senkte für einen Moment schwer atmend das Schwert. Er spürte jetzt wieder seine Schwäche, seine Müdigkeit. Er sah schnell die Gefährten an. Auch sie standen keuchend da, Madeleine stützte Sean, Ludolf und Jesus umklammerten mit entschlossener Miene die Hellebarden.
Aber es war nur eine Frage der Zeit, und die Überzahl der Soldaten würde sie gewaltsam in die Knie zwingen.
Die Fischer von Famagusta spürten es als Erste. Das Meer bebte. Eine Springflut hatte sich vom Horizont gelöst und raste auf das Land zu.
Fische sprangen aus dem Wasser hoch in die Luft, sogar Haie, so etwas hatten die Fischer noch nicht gesehen. Es war, als habe die Kreaturen der Tiefe eine Panik ergriffen vor dem, was da unter ihnen auf sie zukam, und als wollten sie in die Lüfte entfliehen. Doch wenn sie ins Wasser zurückfielen, hatte sie wieder ihr natürliches Schicksal eingeholt.
Auch die Fischer ergriff Panik. Sie ruderten so schnell sie konnten auf die Küste zu. Die riesige Welle hinter ihnen kam so schnell näher, dass sie es nicht bis ans Land schaffen würden. Sie stießen letzte Gebete aus. Aber zum Glück täuschten sie sich. Es war, als ob die Welle innehielt und Atem holte, um noch mehr Kraft zu sammeln. Vielleicht täuschte auch die Entfernung, denn die Springflut stand gegen den Horizont, und nichts verdeckte den Blick auf sie.
»Verfluchte Seebeben!«, schrie einer der Ruderer. »Das fünfte in drei Jahren! Es wird immer schlimmer!«
»Wir geben unsere Stadt aber nicht auf!«, schrie ein anderer. »Es ist die schönste Stadt des Erdkreises!«
»Aber wir sind ständigen Prüfungen ausgesetzt, das weiß Gott!«
»Seebeben, Sandstürme, aufbrechende Erdkruste, Treibsand! Was kommt noch?«
»Wir schaffen es, Leute!«
Die Fischer erreichten das Ufer. Sie sprangen aus den Booten, vergaßen aber nicht, ihren Fang mitzunehmen. Dann rannten sie los.
Als einer von ihnen zurückblickte, sah er, dass von der Felseninsel, dort, wo sich die Stadtburg befand, große Steinbrocken herabstürzten. Sie hatten sich einfach von dem Felsen gelöst und fielen ins Meer. Von dem Schauspiel gebannt, blieb der Fischer stehen. Ein zweiter schrie, er solle, verdammt noch mal, laufen.
»Da, sieh doch! Die Insel löst sich in ihre Bestandteile auf!«
Beide blickten jetzt fassungslos
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